Brennpunkt dieser Entwicklung und Situation ist weiterhin Süd-Dakota. Hier werden jährlich ca. 600 Kinder aus den Familien genommen. 63 % der indianischen Kinder in diesem Bundesstaat sind nach Angaben der National Indian Child Welfare Association in Pflegeverhältnissen untergebracht. 34
Dieses traurige Kapitel indianischer Geschichte kann allerdings nicht beendet werden, ohne auf zwei weitere Phänomene, nämlich die langjährige Praxis der Zwangssterilisation von indianischen Mädchen und Frauen und den Ökozid in den Abbauregionen von Uran, hinzuweisen.
Die massenhafte Zwangssterilisation indianischer Mädchen und Frauen vor allem in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war ein weiterer Versuch, Amerika zu de-indianisieren. Diese Form des Völkermordes blieb lange Zeit der öffentlichen Wahrnehmung des weißen Amerika verschlossen und war auch hier in Europa unbekannt. Jedes Jahr wurden tausende, vor allem junge Frauen im gebärfähigen Alter, ohne deren Wissen und Einwilligung während Zahn-, Blinddarm- oder ähnlichen Operationen sterilisiert. Einzelne Berechnungen gehen davon aus, dass ca. 25 % der indianischen Frauen in dieser Zeit sterilisiert wurden. Im gleichen Zeitraum nahm die Geburtenrate der indianischen Bevölkerung um 25 % ab. Ähnliche Sterilisierungsprogramme wurden in den USA an afroamerikanischen und puertoricanischen Frauen und Mädchen sowie mit US-Unterstützung auch in lateinamerikanischen Ländern (Bolivien und Brasilien, später auch Peru) vor allem an Indigenen durchgeführt.
Anderen jungen Indianerinnen wurde gleich die Gebärmutter entfernt, und im Falle von Schwangerschaften wurden indianische Mädchen zur Abtreibung „beraten“. Erst mit dem Erwachen der Red Power-Bewegung und dem weltweit größer werdenden Interesse am Schicksal der nordamerikanischen Indianer, das sich auch im IV. Russell-Tribunal von 1984 niederschlug, wurde diese Genozidpraxis gegen die amerikanischen Ureinwohner einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Das „American Indian Journal“ schrieb über diese Praxis: „Sie nahmen unsere Vergangenheit mit dem Schwert und unser Land mit der Feder. Jetzt versuchen sie, unsere Zukunft mit dem Skalpell zu nehmen.“ 35
Zu der bisher beschrieben Genozid- und Ethnozidpraxis kam seit Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts noch der Ökozid aufgrund der Zerstörung intakter Ökosysteme hinzu. Wie in Australien, Nigeria und einigen GUS-Staaten beginnen Anfang und Ende des nuklearen Kreislaufs, Uranabbau und Endlagerung, auch in den USA und Kanada vor allem in den Gebieten der indigenen Völker. Die Folgen sind Verstrahlung von Luft und Wasser, Vergiftung der Nahrungskette, Kontaminierung von Minenarbeitern aufgrund gesundheits- und lebensgefährdender Arbeitsbedingungen beim Uranabbau, toxische Umweltbelastung durch Chemikalien als Folge der Uranverarbeitung.
In den Uranabbauregionen Arizonas, Süd-Dakotas (beide USA) und Saskatchewans (Kanada) leben Teile der Hopi, Navajo (Dineh), Lakota/Dakota (Sioux), Cree, Chippewa und Dene in partiell radioaktiv verseuchten Reservationsgebieten. International tätige Konzerne hinterlassen in den genannten Regionen radioaktiv strahlende Abfälle, offene Probebohrlöcher und stillgelegte oder noch genutzte Abbaugebiete, die Wasser und Luft, Pflanzen, Wild und Vieh vergiften und Leben und Gesundheit der dort lebenden Menschen bedrohen.
So gab es 1986 in der Navajo-Reservation über 650 aufgelassene Bohrlöcher, Minen und Stollen und sechs stillgelegte Uranmühlen. Vor allem männliche Reservationsbewohner sahen in der Minenarbeit eine Chance, der vorherrschenden Armut zu entkommen. Über mögliche Gefahren erfuhren die indianischen Minenarbeiter nichts. 90 Cent Stundenlohn als Anfangseinkommen boten die Uran-Minen ihren Minenarbeitern. Nach den Sprengungen unter Tage durften diese dann in die unbelüfteten staubigen Stollen, um dort das Uranerz abzubauen. Ein Großteil des Uranerz-Gesteins blieb nach dessen Zerkleinerung durch die Gesteinsmühlen in von Wind und Wasser ungeschützten Tailings liegen und kontaminiert somit seit über 50 Jahren die gesamte Umgebung. In einigen Regionen wurde hieraus sogar Baumaterial für den Haus- und Straßenbau hergestellt.
Längst sind diese Siedlungen verlassen und gleichen abgeriegelten Geisterstädten. Erst nachdem die Bewohner dieser Wohnsiedlungen, meist Native Americans oder Angehörige der verarmten weißen Arbeiterklasse, über unerklärliche Symptome klagten und viele Bewohner schwer erkrankten, wurde dieser Skandal aufgedeckt.
Weitere seit langem bekannte und nachweisbare Folgen der Uranwirtschaft für Native Americans:
–in der Pine Ridge Reservation/Süd-Dakota liegen die gemessenen Radioaktivitätswerte des Grund- und Oberflächenwassers an mehreren Stellen um ein Mehrfaches über dem erlaubten Grenzwert;
–auffällig hohe Zahlen von Fehl- und Totgeburten sowie Missbildungen in Süd-Dakota und Nord-Saskatchewan.
–das Jobwunder endete für viele Navajo- und Dene-Uranminenarbeiter aufgrund fehlender bzw. unzureichender Arbeitsschutzmaßnahmen und mangels Risikoaufklärung tödlich;
–Western-Schoshone-Indianer leben in den kontaminierten Atomtestgebieten Nevadas, zudem drohte ihnen bis zum Amtsantritt von US-Präsident B. Obamas ein gigantisches Endlager hochradioaktiver Abfälle.
Die Gesundheitsstudie der Women of All Red Nations (WARN) aus dem Jahr 1980 beschreibt ausführlich die hohe Rate an Knochenkrebserkrankungen, problematischen Schwangerschaften oder genetischen Defekten als mögliche Folgen der nuklearen Kontaminierung des Trinkwassers in Teilen der Pine Ridge Reservation aufgrund von Uranvorkommen, -abbau und -verarbeitung sowie Einsatz uranhaltiger Munition in militärischen Versuchsgeländen (bombing ranges) in den Badlands. Und für die Navajo gilt fast vierzig Jahre später, also Ende der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts, dass Lungen- und Knochenkrebs sowie Nierenerkrankungen häufiger vorkommen als in der Gesamtbevölkerung, denn nicht nur die Minenarbeiter sondern auch deren Familien waren und sind radioaktivem Staub, Trinkwasser und kontaminierten Lebensmitteln ausgesetzt. (D.Hahn, 2017).
Und wenn dieses Kapitel überschrieben ist mit „Indian Wars Aren‘t over“, so sollten abschließend noch zwei weitere Aspekte erwähnt werden.
Erstens ist hier auf das Schicksal zahlreicher indigener Mädchen und Frauen hinzuweisen, die immer wieder Opfer von Entführungs-, Sexual- und Tötungsdelikten werden, die eben nicht von Familien- oder Stammesangehörigen begangen wurden. Anlässlich der Ermordung der 22-jährigen, im achten Monat schwangeren Lakota Savannah LaFontaine-Greywind schrieb Leonard Peltier: „Unsere indigenen Frauen sind zehnmal häufiger Opfer von Gewalttaten als jede andere Gruppe von Frauen. Und dies ist Gewalt von Non – Natives, das ist nun mal statistisch erwiesen. Unsere Frauen werden mehr als andere Frauen entführt, ermordet oder werden vermisst.“ (Statement from Leonard Peltier regarding Murdered Native Women, 30. August 2017).
Zweitens bezieht sich dies auch auf die Reaktionen des weißen Amerika auf die erwachende Gegenwehr vieler Indianer seit den 60iger Jahren gegen weitere Landvertreibung und Uranabbau, gegen die Zerstörung intakter Landschaften und spiritueller Orte, gegen rassistische Polizeiübergriffe und Justiz sowie die anhaltenden Versuche, die Forderung nach Selbstbestimmung und Einhaltung der Verträge aus dem 19. Jahrhundert zu unterdrücken. Die Bedeutung von Land ist dabei nach wie vor wichtiges Element indianischer Spiritualität und Philosophie. „Mother Earth“ oder „Pacha Mama“ ist untrennbar mit dem Leben und Denken traditioneller Indianer und Indios verbunden. Dabei ist der Mensch ein Bestandteil eines großen Kreislaufs und somit lediglich ein Element der Dinge und (Lebe)Wesen eines Territoriums, die ihn umgeben. Aktuell hat dies in Mexiko Subcommandante Marcos beschrieben, in dem er ausführte:
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