»Ich will es sehr. Aber bei wem soll ich es lernen?«
»Es gibt doch hier viele, die zu lesen verstehen! Willst du, daß ich dich unterrichte?«
»Ach, unterrichte mich, bitte!« Er setzte sich sogar auf seiner Pritsche auf, faltete bittend die Hände und sah mich an.
Wir fingen gleich am nächsten Abend an. Ich hatte ein russisches Neues Testament bei mir, ein Buch, das im Zuchthause nicht verboten war. Ohne eine Fibel, nur nach diesem Buche lernte Alej in wenigen Wochen vortrefflich lesen. Nach drei Monaten verstand er auch vollkommen die Büchersprache. Er lernte mit Eifer und Begeisterung.
Einmal hatte ich mit ihm die ganze Bergpredigt gelesen. Ich merkte, daß er einige Stellen mit besonderem Gefühl sprach.
Ich fragte ihn, ob ihm das Gelesene gefalle.
Er warf mir einen schnellen Blick zu und errötete.
»Ach ja!« antwortete er. »Issa ist ein heiliger Prophet. Issa sprach göttliche Worte. So schön!«
»Was gefällt dir denn am meisten?«
»Wo er sagt: ›Vergib, liebe, tue niemand was zu leide und liebe deine Feinde.‹ Ach, so schön sagt er das!«
Er wandte sich zu seinen Brüdern um, die unserm Gespräch zuhörten, und begann ihnen mit Feuer etwas zu erklären. Sie sprachen lange und ernst miteinander und nickten bejahend mit den Köpfen. Dann wandten sie sich mit einem würdevoll-wohlwollenden, d. h. echt muselmannischen Lächeln (das ich so sehr liebe, und zwar gerade wegen dieser Würde) an mich und bestätigten, daß Issa ein göttlicher Prophet gewesen sei und große Wunder getan habe; daß er einen Vogel aus Lehm geformt und angeblasen habe und der Vogel davongeflogen sei . . . so stehe es in ihren Büchern geschrieben. Als sie das sagten, waren sie völlig davon überzeugt, daß sie mir ein großes Vergnügen bereiteten, indem sie Issa lobten, und Alej war vollkommen glücklich, weil seine Brüder sich entschlossen hatten, mir dieses Vergnügen zu bereiten.
Auch im Schreibunterricht machten wir gute Fortschritte. Alej beschaffte Papier (und duldete nicht, daß ich es für mein Geld kaufte), Federn und Tinte und lernte in etwa zwei Monaten vorzüglich schreiben. Das machte sogar auf seine Brüder Eindruck. Ihr Stolz und ihre Zufriedenheit waren grenzenlos. Sie wußten gar nicht, wie sie mir danken sollten. Bei der Arbeit, wenn es sich traf, daß wir zusammen arbeiteten, halfen sie mir um die Wette und rechneten es sich als ein Glück an. Von Alej rede ich schon gar nicht. Er hing an mir vielleicht nicht weniger als an seinen Brüdern. Nie vergesse ich, wie er das Zuchthaus verließ. Er führte mich hinter die Kaserne, fiel mir dort um den Hals und fing zu weinen an. Vorher hatte er mich noch nie geküßt und auch nie geweint. »Du hast für mich so viel getan, so viel getan,« sagte er, »wie viel mein Vater und meine Mutter für mich nicht getan hätten: du hast mich zu einem Menschen gemacht, Gott wird es dir lohnen, ich aber werde es dir nie vergessen . . .«
Wo, wo mag er jetzt sein, mein guter, lieber, lieber Alej!
Außer den Kaukasiern gab es in unseren Kasernen noch eine ganze Gruppe Polen, die eine Familie für sich bildeten und mit den übrigen Arrestanten fast gar nicht verkehrten. Ich sagte schon, daß sie wegen ihrer Abgeschlossenheit und ihres Hasses gegen die russischen Zuchthäusler auch ihrerseits von allen gehaßt wurden. Es waren gequälte, kranke Naturen; es waren ihrer sechs Mann. Einige von ihnen waren gebildet; über sie werde ich im folgenden ausführlicher sprechen. Von ihnen verschaffte ich mir in den letzten Jahren meines Zuchthauslebens zuweilen Bücher. Das erste Buch, das ich gelesen hatte, machte auf mich einen starken, seltsamen, eigentümlichen Eindruck. Auch über diese Eindrücke werde ich später einmal besonders sprechen. Sie sind für mich außerordentlich merkwürdig, und ich bin überzeugt, daß sie vielen ganz unverständlich erscheinen werden. Über manche Dinge kann man gar nicht urteilen, wenn man sie nicht selbst erfahren hat. Ich will nur das eine sagen: die geistigen Entbehrungen sind schwerer als alle physischen Qualen. Der einfache Mann, der ins Zuchthaus kommt, gerät in seine eigene Gesellschaft, vielleicht sogar in eine, die intelligenter ist als seine bisherige Umgebung. Er hat natürlich vieles verloren: die Heimat, die Familie, alles, aber das Milieu bleibt dennoch dasselbe. Der gebildete Mensch dagegen, der nach dem Gesetz zu der gleichen Strafe wie der einfache Mann verurteilt wird, verliert unvergleichlich mehr als dieser. Er muß alle seine Bedürfnisse und Gewohnheiten unterdrücken; er muß in eine Umgebung kommen, die ihn unmöglich befriedigen kann, und muß lernen, eine andere Luft zu atmen . . . Er ist wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezogen und auf den Sand geworfen hat . . . So ist die laut Gesetz für alle gleiche Strafe für ihn oft zehnmal so qualvoll als für die andern. Es ist wirklich so . . . selbst wenn man nur an die materiellen Gewohnheiten allein denkt, die er opfern muß.
Aber die Polen bildeten eine Gruppe für sich. Es waren ihrer sechs Mann, die immer zusammenhielten. Von allen Zuchthäuslern unserer Kaserne mochten sie nur den Juden allein, vielleicht einzig aus dem Grunde, weil er sie amüsierte. Unsern Juden mochten übrigens auch die andern Arrestanten gern leiden, obwohl sie sich alle ohne Ausnahme über ihn lustig machten. Er war unser einziger Jude, und ich kann auch jetzt noch nicht ohne Lachen an ihn zurückdenken. Sooft ich ihn ansah, kam mir der Gogolsche Jude Jankel aus dem »Taras-Bulba« in den Sinn, der, wenn er sich auszog, um sich für die Nacht mit seiner Jüdin in eine Art Schrank zu begeben, sofort eine Ähnlichkeit mit einem Hühnchen bekam. Unser Jude, Issai Fomitsch glich auffallend einem gerupften Hühnchen. Er war nicht mehr jung, an die fünfzig Jahre alt, klein von Wuchs, schwächlich, verschlagen und zugleich ausgesprochen dumm. Er war frech und hochfahrend, zugleich aber furchtbar feige. Sein Gesicht war voller Runzeln, und auf der Stirn und den Wangen hatte er Brandmale, die ihm auf dem Schafott eingebrannt worden waren. Ich konnte unmöglich begreifen, wie er die sechzig Knutenhiebe hat überstehen können. Ins Zuchthaus war er wegen eines Mordes gekommen. Er hielt bei sich irgendwo ein Rezept versteckt, das ihm seine Glaubensgenossen gleich nach der Exekution von einem Arzt verschafft hatten. Nach diesem Rezept konnte man sich eine Salbe herstellen lassen, mit der man in zwei Wochen alle Brandmale hätte entfernen können. Er wagte es nicht, diese Salbe im Zuchthause anzuwenden, und wartete auf den Ablauf seiner zwölfjährigen Zuchthausstrafe, um dann als freier Ansiedler vom Rezept Gebrauch zu machen. »Sonst werde ich nicht heiraten können,« sagte er mir einmal, »ich will aber unbedingt heiraten.« Wir waren gute Freunde. Im Zuchthause hatte er es leicht; er war von Beruf Juwelier und hatte stets eine Menge Aufträge aus der Stadt, wo es keinen Juwelier gab; deshalb war er auch von den schweren Arbeiten befreit. Natürlich war er zugleich auch Wucherer und versorgte das ganze Zuchthaus gegen Zinsen und Pfänder mit Geld. Er war vor mir ins Zuchthaus gekommen, und einer der Polen beschrieb mir ausführlich seine Ankunft. Es ist eine höchst komische Geschichte, die ich später einmal erzählen werde; über Issai Fomitsch werde ich noch mehr als einmal zu sprechen haben.
Die übrigen Insassen unserer Kaserne waren: vier Altgläubige, alte bibelkundige Männer, unter denen sich auch der Greis aus den Siedlungen bei Starodub befand; zwei oder drei Kleinrussen, düstere Menschen; ein junger Zuchthäusler mit feinem Gesichtchen und einem schmalen Näschen, der trotz seiner dreiundzwanzig Jahre schon acht Menschen ermordet hatte; eine Gruppe von Falschmünzern, von denen einer der Spaßmacher unserer ganzen Kaserne war, und schließlich einige düstere und mürrische Individuen mit rasierten Schädeln und entstellten Gesichtern, die stets schweigsam und neidisch waren, mit Haß um sich blickten und die Absicht hatten, noch viele Jahre, ihre ganze Strafzeit lang, so düster um sich zu blicken, zu schweigen und zu hassen. Dies alles zog an mir an diesem ersten trostlosen Abend meines neuen Lebens flüchtig vorbei, inmitten des Rauches und des Qualmes, des unflätigen Fluchens und eines unbeschreiblichen Zynismus, in der verpesteten Luft, beim Klirren der Ketten, unter wütenden Flüchen und schamlosem Gelächter. Ich legte mich auf die bloße Pritsche, schob mir meine Kleider unter den Kopf (damals besaß ich noch keine Kissen), deckte mich mit meinem Schafpelz zu, konnte aber lange nicht einschlafen, obwohl ich von den ungeheuerlichen und unerwarteten Eindrücken dieses ersten Tages ganz erschöpft und gebrochen war. Aber mein neues Leben fing erst an. In der Zukunft erwartete mich noch vieles, woran ich nie gedacht und was ich nie geahnt hatte . . .
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