2. Struktur der Gesamtrechtsordnung
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Mit dieser Allgegenwärtigkeit des Rechts ist natürlich eine nicht mehr zu überschauende Anzahl an Normen verbunden. Um dennoch sich einen gewissen Überblick über das System verschaffen zu können, werden die Normen in Rechtsgebieten systematisch gebündelt und damit in einer Gesamtstrukturerfasst. Eine mögliche Darstellung dieser Struktur sieht wie folgt aus:[4]
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Abbildung 2:
Struktur der Gesamtrechtsordnung
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a) Abgrenzung zwischen Zivilrecht und Öffentlichem Recht
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Die Kernunterscheidung der juristischen Teildisziplinen erfolgt zwischen dem Zivilrecht und dem Öffentlichen Recht. Das Zivilrechterfasst die Rechtsnormen, die für die Rechtsverhältnisse zwischen Privatpersonengelten; der Staat – jedenfalls in seiner Sonderrolle als Hoheitsträger – spielt hier keine Rolle. Deshalb könnte man in diesem Sinn das zentrale Gesetz des Zivilrechts, das BGB, auch mit „Bürger gegen Bürger“ übersetzen.[5] Der weit verstandene Begriff des Öffentlichen Rechts (i.w.S.)hingegen gilt für die Rechtsnormen, bei denen der Staat als Hoheitsträgerins Spiel kommt – sei es „unter sich“ (z.B. ein Konflikt von Staatsorganen), sei es im Verhältnis zum Bürger. In einer weiteren Begriffsdifferenzierung unterscheidet man zwischen dem Strafrecht, in dem der Staat besonders massiv in die Rechtssphäre des Bürgers eingreift (weshalb man hier das zentrale Gesetz, das StGB, funktional mit „Staat gegen Bürger“ übersetzen kann), und dem Öffentlichen Recht im engeren Sinn. Dieses engere Begriffsverständnis bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch unter Juristen das Öffentliche Recht, weshalb auch in diesem Buch unter „Öffentlichem Recht“ stets das im engeren Sinn verstanden wird.
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Zur Abgrenzung von Zivilrecht und Öffentlichem Rechthat die Rechtswissenschaft verschiedene Theorien entwickelt.
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Nach der Subordinationstheorie liegt öffentliches Recht vor, wenn das maßgebliche Rechtsverhältnis durch ein Über-/Unterordnungsverhältnis (statt einer Gleichordnung auf Augenhöhe) geprägt ist. Das ist der Fall, wenn eine Seite – z.B. eine Behörde – einseitig entscheidet. |
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Nach der Interessentheorie liegt öffentliches Recht vor, wenn der fragliche Sachverhalt im Allgemeinwohlinteresse (anstelle des Individualinteresses) liegt. |
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Und die Sonderrechtstheorie gelangt zum öffentlichen Recht, wenn auf mindestens einer Seite des Rechtsverhältnisses ein Hoheitsträger steht, der auf Grund eines Sonderrechtes handelt. Ein Sonderrecht ist eine Norm, die nicht jedermann, sondern nur Hoheitsträger zu einem bestimmten Handeln ermächtigt. |
Die Abgrenzung ist immer nach allen drei Theorien vorzunehmen, weil nicht selten die einzelnen Theorien zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen.
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Beispiel:
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So agieren zwei Gemeinden bei einem Vertragsschluss zum gemeinsamen Betrieb einer Kläranlage zwar auf Augenhöhe, also ohne Über-/Unterordnung. Aber zum einen liegt die Abwasserentsorgung im Allgemeininteresse und zum anderen nehmen die Gemeinden hier die hoheitliche Aufgabe der Abwasserentsorgung als Sonderrecht wahr, weshalb ihr Vertrag öffentlich-rechtlicher Natur ist. |
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Wenn der privatrechtlich organisierte TÜV die Verkehrstauglichkeit eines Fahrzeugs bescheinigt, handelt zwar eine private Rechtsperson und kein Hoheitsträger. Das kann der TÜV aber nur, weil er mit dieser hoheitlichen Aufgabe beliehen worden ist, weshalb auch hier ein Sonderrecht vorliegt (§ 29 II StVZO). Zudem entscheidet der TÜV einseitig (also nicht etwa auf dem Verhandlungsweg) über die Plakettenerteilung, weshalb hier auch ein Über-/Unterordnungsverhältnis vorliegt. Schließlich liegt die Verkehrssicherheit der zugelassenen Fahrzeuge im Allgemeininteresse. Somit liegt auch hier öffentliches Recht vor.[6] |
b) Zwischen- und überstaatliche Ebene
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Sowohl dem Zivilrecht als auch dem Öffentlichen Recht (i.e.S.) lassen sich Rechtsgebiete auf zwischen- und übernationaler Ebene einerseits und auf nationaler Ebene andererseits zuordnen. So gibt es im Zivilrechtdas „Internationale Privatrecht (IPR)“. Dabei handelt es sich um Normen des internationalen oder – anders als die etwas unglückliche Bezeichnung vermuten lässt – des nationalen Rechts, mit denen in grenzüberschreitenden Fällen geklärt werden kann, welches nationale Recht anzuwenden ist. Streitet sich z.B. eine deutsche mit einer österreichischen Schifffahrtsgesellschaft vor einem deutschen Gericht darüber, wer Eigentümerin eines kleinen Passagierschiffs ist, dessen Heimathafen in Romanshorn (CH) am Bodensee ist, gilt für diesen Rechtsstreit schweizerisches Recht. Denn Art. 45 I Nr. 2 EGBGB erklärt dafür das Recht des Heimathafens für maßgeblich.[7]
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Im Öffentlichen Rechtgibt es auf der internationalen Ebene zum einen das Völkerrecht. Dieses umfasst die Rechtsnormen, die für die Rechtsverhältnisse unter den souveränen Staaten und Staatenverbindungen maßgeblich sind. Dazu gehören sowohl multilaterale Verträge wie die Charta der Vereinten Nationen, als auch bi- oder trilaterale Verträge von zwei oder drei Staaten wie z.B. Doppelbesteuerungs- oder Auslieferungsabkommen. In diesen Fällen gehen souveräne Staaten ohne Souveränitätsverzichte freiwillige Rechtsbindungen gegenüber anderen Staaten ein. Zum anderen gibt es das bereits angesprochene Europarecht, das wegen der Souveränitätsverzichte der EU-Mitgliedstaaten in den verschiedenen Europäischen Verträgen eine überstaatliche Rechtsbindung gegenüber den Mitgliedstaaten entfaltet (hierzu näher nachfolgend Kapitel 1).
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Das Strafrechtkennt als Normen des internationalen Rechts das Völkerstrafrecht, das jedoch nur einen sehr engen Anwendungsbereich hat. Denn dieses erfasst nur die „schwersten Verbrechen […], welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“, also Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression (Art. 5 I IStGH-Statut). Für sonstige Strafdelikte gibt es keine unmittelbar geltenden Normen internationalen Rechts. Zwar existieren internationale Abkommen wie z.B. das Cybercrime-Abkommen,[8] die aber keine Strafbarkeitsnormen enthalten, sondern nur Verpflichtungen der Unterzeichnerstaaten, bestimmte Strafbarkeitsnormen zu erlassen. Auch ein internationales Kollisionsrecht gibt es im Strafrecht nicht. Vielmehr bestimmt jeder Staat seinen Strafanspruch durch seine nationale Strafrechtsordnung selbst. Das kann im Extremfall sogar zur Folge haben, dass ein Täter wegen derselben Tat in verschiedenen Ländern mehrfach bestraft werden kann (was innerstaatlich wegen Art. 103 III GG ausgeschlossen ist, sog. „ne bis in idem“).
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Auf nationaler Ebene ist das Zivilrechtunstreitig das größte und praktisch wichtigste Teilrechtsgebiet. Grund dafür ist, dass nahezu alle Menschen fast täglich privatrechtlich aktiv sind (und sei es nur beim morgendlichen Kauf eines Pappbechers mit Kaffee oder beim Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel), was im Öffentlichen Recht und – gottseidank – erst recht im Strafrecht wesentlich weniger der Fall ist.
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