c) Feststellung des mildesten Gesetzes
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Wenn eine relevante Änderung des (im Übrigen „Identität“ wahrenden) Gesetzes vorliegt, bedarf es der Feststellung des mildesten Gesetzes, die im Wege eines Vergleiches der alten und der neuen Regelungvorzunehmen ist. Die Vergleichsbildung ist dabei konkret im Hinblick darauf vorzunehmen, welches Gesetz im konkreten Falldie für den Täter günstigste Rechtsfolge vorsieht.[186] Die Gründe, die zu der Gesetzesänderung geführt haben, sind irrelevant.[187] Die Prüfung ist für jeden Beteiligten getrennt durchzuführen.
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Umstritten ist, wie zu verfahren ist, wenn über die Hauptsanktion hinaus auf Nebenfolgenerkannt werden darf. Rechtsprechung und h.L. gehen vom Grundsatz strikter Alternativitätaus; hiernach ist die Anwendung des Gesetzes nur als Ganzes geboten[188] und nicht getrennt nach Schuldspruch, Strafdrohung, Strafzumessungsvorschriften des Allgemeinen Teils sowie Nebenfolgen die jeweils günstigere Regelung zu finden und anzuwenden.[189] Dies ist jedoch unter dem im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG bedenklich. Daher ist es vorzugswürdig, für jede Sanktionsfolge getrenntzu ermitteln, welches Gesetz das Mildere darstellt.[190]
d) Mehrfache Gesetzesänderungen und Zwischengesetze
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Wenn sich die Rechtslage zwischen der Handlungszeit und dem Zeitpunkt der Entscheidung mehrfach geändert hat, stellt sich die Frage, ob auch die im Ahndungszeitpunkt außer Kraft getretenen Zwischengesetzezu berücksichtigen sind, sofern diese eine mildere Beurteilung des Tatgeschehens zulassen. Obwohl Nichtberücksichtigung milderer Zwischengesetze keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot bedeutet[191], handelt es sich um ein „Gebot der Billigkeit“.[192] Hierfür sprechen sowohl der Gesetzeswortlaut als auch der Zweck der Norm stützen dieses Ergebnis, so dass einhellig die Berücksichtigung milderer Zwischengesetze eintritt gefordert wird.[193] Wenn ein Verhalten in der Zwischenzeit straflos war, ist dies die mildeste Regelung, die zur Straflosigkeit führt, es sei denn, es handelt sich um ein Versehen des Gesetzgebers, das innerhalb kurzer Zeit behoben wird.[194]
6. Sonderregelungen für Zeitgesetze
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Der Gesetzgeber hat den Grundsatz der Berücksichtigung einer mildernden Gesetzesänderung in § 2 Abs. 4 S. 1 StGB für Gesetze, die nur für eine bestimmte Zeit gelten[195], eingeschränkt. Solche Zeitgesetze sind auf Taten, die während deren Geltung begangen worden sind, auch dann anzuwenden, wenn sie außer Kraft getreten sind. Dies gilt gemäß § 2 Abs. 4 S. 2 StGB nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt. Diese Regelung verstößt nicht gegen Art. 15 Abs. 1 S. 3 IPbpR, da Deutschland diesbezüglich einen Vorbehalt erklärt hat.[196]
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Zweck dieser Regelung ist, dass bei uneingeschränkter Rückwirkung des mildesten Rechts Zeitgesetze „gegen Ende ihrer Geltungszeit an Wirksamkeit verlören und Beschuldigte dem Versuch unterliegen könnten, das Verfahren zu verzögern“.[197] Allerdings muss die begangene Tat auch noch zur Zeit der Entscheidung einen „gegenwärtigen Konflikt“[198] bedeuten, so dass mit der Bestrafung noch auf einen gegenwärtig bestehenden Konflikt reagiert wird.[199] Deshalb entfällt jeder Grund für eine Bestrafung der Altfälle, wenn ein Zeitgesetz nicht wegen der Befristung oder des Wegfalls seiner tatsächlichen Voraussetzungen, sondern wegen „geläuterter Rechtsauffassung“ des Gesetzgebers aufgehoben wird. In diesen Fällen bleibt es bei der Anwendung des Meistbegünstigungsprinzips des § 2 Abs. 3 StGB.[200] Zeitgesetze können auch durch andere Zeitgesetze abgelöst werden. Dann gilt ebenfalls die Regelung des § 2 Abs. 3 StGB, so dass sich der Betroffene auf das mildeste Zeitgesetz berufen kann.[201]
b) Begriff des Zeitgesetzes
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In § 2 Abs. 4 StGB wird das Zeitgesetz als ein Gesetz definiert, das nur für eine bestimmte Zeit gelten soll. Abgestellt ist damit auf eine zeitliche Befristung, die der Gesetzgeber gewollt hat. Sein Wille muss Niederschlag im Gesetz gefunden haben. Dies ist bei Zeitgesetzen im engeren Sinnder Fall, für die das Gesetz einen nach dem Kalender festgelegten Zeitpunkt oder ein sonstiges zukünftiges Ereignis bestimmt, an dem das Gesetz außer Kraft treten soll.[202] Zeitgesetze liegen aber auch dann vor, wenn ohne ausdrückliche Befristung Regelungen getroffen werden, „die erkennbar von vornherein Übergangscharakter haben“, denen also nach ihrem „Zweck und erkennbaren Willen nur vorübergehende Bedeutung zukommt“ ( Zeitgesetze im erweiterten Sinn).[203] Diese Feststellung kann im Einzelfall zu Feststellungsschwierigkeiten führen[204], denen durch eine restriktive Auslegung Rechnung zu tragen ist:[205] Nur wenn eine für den Normadressaten klar erkennbare Regelung mit Übergangscharakter vorliegt, ist der Grundsatz der Gesetzesbindung gewahrt.
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Der Gesetzgeber kann ein ursprünglich als vorübergehend gedachtes Gesetz nachträglich zu einem dauerhaften machen und in Kraft lassen. Dadurch verliert das Gesetz seinen Zeitgesetzcharakter. Unter diesen Voraussetzungen ist § 2 Abs. 3 StGB anzuwenden.[206] Zur Bedeutung des unionsrechtlichen Milderungsgebots (Art. 49 Abs. 1 GRCh), das keine Ausnahme für Zeitgesetze kennt (siehe unten Rn. 95).
c) Vorbehalt für abweichende Regelungen
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Nach § 2 Abs. 4 S. 2 StGB kann die Nachwirkung des Zeitgesetzes aus besonderen Gründen kraft Gesetzes beseitigt oder beschränkt werden.
7. Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung
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Nach § 2 Abs. 5 StGB gelten für Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung die Absätze 1–4 entsprechend. Dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es sich bei Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung um strafähnliche Maßnahmen handelt.[207] Im Falle einer Rechtsänderung muss daher im Hinblick auf die Anwendung des mildesten Gesetzes für den konkreten Einzelfall bestimmt werden, welche Rechtsfolgen weniger einschneidend sind.[208] Wenn sich Verfall, Einziehung oder Unbrauchbarmachung ausnahmsweise auf eine Tat beziehen, die auf einem Zeitgesetz i.S.d. Absatz 4 beruht, ist die Anwendung des „Meistbegünstigungsprinzips“ ausgeschlossen, so etwa bei Verfall und Einziehung von Gewinnen aus Embargoverstößen.[209]
8. Ausnahme für Maßregeln der Sicherung und Besserung
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Nach § 2 Abs. 6 StGB gilt das Rückwirkungsverbotfür Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht.[210] Allerdings kann der Gesetzgeber gegenteilige Regelungen treffen und hat hiervon in der Vergangenheit auch mehrfach Gebrauch gemacht. Allerdings ist die Anordnung des Rückwirkungsverbots überwiegend durch das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004[211] aufgehoben worden. Gegenwärtig betrifft § 2 Abs. 6 StGB die Sicherungsverwahrung, die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus(§ 63 StGB) oder einer Entziehungsanstalt(§ 64 StGB) und die Entziehung der Fahrerlaubnis(§ 69 StGB). Gesetzgeberische Ausnahmen finden sich nur noch in Art. 303 EGStGB für die Führungsaufsicht (§ 68 StGB) und in Art. 305 EGStGB für das Berufsverbot (§ 70 StGB).
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Für die Sicherungsverwahrungsieht der 2013 eingeführte Art. 316f EGStGB vor, dass die Neuregelungen nur für Anlasstaten gelten, die nach Inkrafttreten des Neurechts begangen worden sind. Nach Art. 316f Abs. 2 EGStGB gelten die materiellen Anordnungsvoraussetzungen des alten, mit dem Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010[212] geschaffenen Rechts[213], wenn die letzte Anlasstat vor dem 1. Juni 2013 begangen wurde. Für den Vollzug der Sicherungsverwahrung ordnet Art. 316f Abs. 3 EGStGB demgegenüber sowohl für Alt- als auch für Neufälle ohne zeitliche Differenzierung die Geltung des § 66c StGB an.
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