„Wie hätte ich denn ahnen können, dass ich es mit einem potenziellen Vergewaltiger zu tun habe?“
Im Nachhinein wird mir klar, ich hätte Ryan beim Cocktailmixen auf die Hände sehen sollen. Wie oft hat Paps mir diese Regeln eingetrichtert: Getränke niemals unbeaufsichtigt stehen lassen. Keine offenen Getränke von Unbekannten annehmen. Bei Übelkeit sich nicht an Unbekannte wenden … Und ich habe sie alle außer Acht gelassen!
Alain hebt die Decke, bittet mich mit einer Handbewegung aufs Bett und deckt mich fürsorglich zu. „Irina. Wie bist du eigentlich an Ryan geraten?“, fragt er schonend nach und setzt sich, eine gesunde Distanz einhaltend, auf die Bettkante.
„Alain. Ich habe mich Ryan nicht an den Hals geworfen, falls du das von mir denkst. Er hat mich angesprochen, mich zu einem Drink eingeladen …“ Ich erzähle ihm, was vorgefallen ist, und erst jetzt, da ich mir die Begegnungen mit Ryan noch einmal vor Augen führe, fügen sich die Puzzleteile zusammen. „Und das alles … deinetwegen.“
„Meinetwegen?“ Alains Augen weiten sich vor Entsetzen.
„Als er mit diesem bösartigen Grinsen auf mir saß, in der einen Hand das Messer, die andere fest auf meinen Mund gepresst …“ Unwillkürlich fange ich an zu zittern. Um es zu unterdrücken, reibe ich mit der rechten Hand meinen linken Arm entlang. „… ist dein Name gefallen.“
Einen Fluch gen Himmel sendend erhebt er sich vom Bett und schreitet wie ein gestresster, übellauniger Löwe, der in einem viel zu kleinen Zirkuskäfig gefangen gehalten wird, im Hotelzimmer auf und ab. „Kannst du dich an den Zusammenhang erinnern?“ Es kostet ihn redlich Mühe, seine Stimme im Zaum zu halten.
„Nur vage … Ryan hat behauptet, er hätte es satt, immer an zweiter Stelle zu stehen …“ Ich schlucke schwer und befeuchte meine Lippen, über welche Ryans vulgärer Wortlaut einfach nicht gelangen will. „… und es hat ihn nur noch mehr angestachelt, dass er dir ausgerechnet bei mir zuvorkommen kann … Hmmm. Inhaltlich könnte es so hinkommen … Alain?“
Starr steht er vor dem großen Fenster des Hotelzimmers und blickt in die Finsternis. Das Glas spiegelt seinen angespannten Gesichtsausdruck wider. Die Kiefer mahlen, die Augen sind zu Schlitzen zusammengekniffen, die Arme hält er vor dem Körper verschränkt. Als sich die Tür leise öffnet, dringt ein bedrohliches Knurren aus den Tiefen seiner Kehle.
„Irina? Ist alles in Ordnung? Seid ihr beiden aneinandergeraten?“ Corinne betritt das Zimmer zusammen mit Marc, der auf direktem Weg zu Alain eilt und ihn der Stinkwut wegen anspricht. Zögernd und etwas irritiert setzt sich meine Cousine zu mir aufs Bett, reicht mir eine kleine Flasche Wasser, die sie mir zuvorkommend geöffnet hat. Ich trinke sie bis zur Hälfte leer, während die Diskussion der beiden Brüder zu uns herüberdringt.
„Marc. Du bleibst hier, wirst auf die beiden aufpassen und am Morgen bringst du sie sicher nach Hause.“
„Du wirst nicht allein losziehen, Alain! Wenn das wirklich stimmt …“
Alain legt seinem Bruder beruhigend die Hand auf die Schulter. „Keine Sorge, werde ich nicht. Paul und sein Team werden mich begleiten. Wir müssen diesen Bastard lediglich ausfindig machen, dann werden wir die Polizei verständigen.“
„Ich kenn dich! Selbstjustiz ist keine Lösung!“
„Ich melde mich bei dir, wenn ich mehr weiß.“ Mit energischen Schritten, die Hände zu Fäusten geballt, durchquert Alain den Raum in Richtung Tür. Er ist in Rage, schäumt vor Wut.
Angst regt sich in mir, ihm könnte etwas zustoßen. „Alain … Alain. Bitte warte.“ Als ich Anstalten mache, mich zu erheben, eilt er zu mir.
Der Zorn im Nu verflogen, umfasst er wohl unbewusst meine Hand. „Ruh dich aus. Ich werde am Nachmittag bei dir zu Hause vorbeischauen und dir eine Wundheilsalbe und ein Schmerzmittel mitbringen.“ Sachte streichelt sein Daumen über meinen Handrücken.
„Alain … Bitte pass auf dich auf, ja?“ Ich übe sanften Druck auf seine Finger aus. Seinem Gesichtsausdruck und seiner Reaktion nach zu urteilen, scheint ihm in diesem Moment bewusst zu werden, dass wir uns berühren. Wie bei einer elektrostatischen Entladung entzieht er mir abrupt seine Hand.
Trotzdem verziehen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln, es beschränkt sich jedoch auf die Mundpartie, die Augen erreicht es nicht. „Ich versuche mein Bestes.“
Wehmütig blicke ich Alain hinterher. Marc verlässt mit ihm zusammen den Raum, macht es sich im Vorzimmer bequem und mimt den Wachhund, wie es der große Bruder aufgetragen hat.
Der Liebestaumel, der Rausch lässt nach, sobald die Tür ins Schloss fällt. Bezüglich der Droge lag Alain wohl gar nicht so falsch. Er ist meine Droge, und diese birgt ein verdammt hohes Suchtrisiko.
Corinne steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. „Bitte sag mir, dass ich mich irre, was dich und Foster anbelangt.“
Beschämt schüttle ich den Kopf.
„Irina!“ Sie schlägt einen tadelnden, vorwurfsvollen Tonfall an, der in mir schiere Auflehnung wachruft.
„Bitte keine Moralpredigt à la Hauptmann Meyer! Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, Corinne, und ich habe deine warnenden Worte gestern beim Frühstück zur Kenntnis genommen, dennoch bitte ich dich, lass mich meine eigenen Erfahrungen machen.“
Die Tatsache, dass ich sie mit Paps verglichen habe, gibt ihr zu denken. „Ich werde mich bestimmt nicht wie Onkel René verhalten“, sie verschränkt schmollend die Arme vor der Brust, „aber muss es denn ausgerechnet Alain Foster sein, Cantor, Gott der Kälte, höchstpersönlich? Irina, lass zu deinem Wohle die Finger von ihm!“
„Diesen Gefallen tut dir Alain schon …“
„Wie … was …?“ Corinne macht einen irritierten Eindruck.
„Ich habe ihn gebeten, mich zu küssen“, gestehe ich ihr, und noch ehe sie ihr Entsetzen zum Ausdruck bringen kann, fahre ich fort: „Und er hat mich verschmäht …“
Wider Erwarten jubelt Corinne nicht auf, sie macht auch keine Luftsprünge, nicht einmal ein triumphierendes Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen, sondern sie wirkt nachdenklich. „Das passt ja gar nicht. Normalerweise lässt er nichts anbrennen.“
„Bitte, liebe Cousine, hilf mir!“, bettle ich, überdecke die Hand auf ihrem Knie mit meiner, um meinem Flehen Nachdruck zu verleihen. „Bitte gib mir einen Tipp, wie ich Alain aus der Reserve locken kann.“ Man kann beinahe sehen, wie die Rädchen in ihrem Kopf auf Hochtouren laufen, während sie grübelt. „Tu’s dem Hausfrieden zuliebe, du weißt, Beharrlichkeit liegt in den Meyer-Genen …“
„Und davon habe ich ebenfalls nicht zu wenig. Darum beantworte mir noch eine Frage: Willst du es wirklich versuchen, auch auf das Risiko hin, dass du nur, so derb es auch klingen mag, ein Fick für ihn bist?“
Etwas tief in mir wehrt sich gegen Corinnes Worte. Die Hoffnung, dass es nicht so ist. „Ja. Auch auf das Risiko hin, nur eine Nacht mit ihm zu haben.“
Und dann willigt sie endlich ein: „Okay Süße. Lass deine zwei Begegnungen mit Foster Revue passieren …“
„Hmmm. Corinne, eigentlich waren es vier.“
„Vier?“, fragt sie verblüfft nach.
Ich nicke und berichte ihr davon, erwähne jedes noch so kleine Detail. Corinnes Gesichtsausdruck verändert sich allmählich. Saß sie zu Beginn die Lippen fest aufeinandergepresst und die Augen voller Skepsis da, sitzt sie schlussendlich mit großen Augen und weit aufklaffendem Mund staunend vor mir. Sie braucht einen Moment, um sich zu fangen.
„Vier Begegnungen in zwei Tagen. Das überschreitet mein Monatspensum … und am Nachmittag seht ihr euch schon wieder. Der ideale Zeitpunkt, um zuzuschlagen! Knüpfe an die Tatsache an, dass er allem Anschein nach eifersüchtig auf Kevin reagiert … Aber übertreib es nicht, denn so ein Spielchen kann ganz leicht ausarten. Zudem läufst du Gefahr, die Gefühle des Statisten zu verletzen“, ermahnt sie mich.
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