Rollenspezifische Leitbilder können einander sogar widersprechen und uns in innere und äußere Konflikte bringen. Das Bemühen z. B., die beruflichen Anforderungen möglichst perfekt zu erfüllen, kann kollidieren mit dem gleichzeitig bestehenden Leitbild vom fürsorglichen Familienvater oder dem engagierten Verbandsfunktionär.
2.4 Leitbilder entwickeln sich
Leitbilder entwickeln sich in der Regel ohne die bewusste Entscheidung einer Person, so zu sein oder zu werden wie eine andere Person. Zunächst sind sie überwiegend an den Menschen des engeren und weiteren Umfelds ausgerichtet. Die Interaktion mit den ersten Bezugspersonen lässt uns lernen, welches Verhalten, Denken, Sprechen in Familie, Schule und Freundeskreis akzeptiert wird und welches nicht, welche Lebensmaximen gelten. Werden diese Erfahrungen verinnerlicht, zur eigenen Handlungsorientierung übernommen, bekommen sie – oder aber ihr Gegenteil – Leitbildcharakter. Die Pubertät ist die Zeit, in der diese frühen Leitbilder infrage gestellt, durch andere ersetzt werden – manchmal nur vorübergehend, bis man merkt, dass sie doch nicht so schlecht waren.
Mit zunehmender Erweiterung des persönlichen Horizonts steht prinzipiell eine sehr facettenreiche Palette an Mustern zur Verfügung: religiöse, ethisch-moralische, philosophische, politische, wirtschaftliche, pädagogische Konzepte, Ideen, Theorien, Ziele, Orientierungen – oder auch »öffentliche« Personen aus Literatur, Sport, Musik, Fernsehen usw. Sich daraus einen roten Faden für den Lebensplan zu knüpfen (Keupp, 2013), ist eine Herausforderung. Frühere Generationen – vor nicht allzu langer Zeit – konnten da auf bewährte Lebensmuster zurückgreifen (siehe Zitat V. Frankl), die quasi als »Schnittmuster« für die Lebensführung (Keupp et al., 2006) dienten. Die Individualisierung einerseits und die globalen Angebote von Lebensentwürfen andererseits machen es zu einer geradezu »unternehmerischen Leistung« (Bröckling, 2007), seinen Lebensweg zu gestalten.
Allerdings halten unsere Leitbilder nicht »ewig«; sie verändern sich – z. B. in den Lebensphasen, mit unserer persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung und als Reaktion auf die Entwicklungen der Rollenpartner (Willi, 2007). Auch gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und politische Veränderungen beeinflussen unsere Leitbilder. Zudem besteht zwischen Rolle und Leitbild ein wechselseitiges Verhältnis: Rollenänderungen, z. B. durch den Wechsel vom Single zum Ehepartner oder durch eine Beförderung vom Lehrer zum Schulleiter, verlangen auch Anpassungen bzw. Neudefinition der Leitbilder. Andererseits kann die Neujustierung eines Leitbilds zur Veränderung bisherigen Rollenverhaltens oder zur Übernahme neuer Rollen führen, z. B. wenn ein erfolgreicher Investmentbanker aussteigt, weil ihm seine finanziellen Aktionen fragwürdig werden.
Irritierend finden wir es allerdings, wenn Menschen ihre Leitbilder ständig wechseln oder inkonsistent damit umgehen; dies beeinträchtigt die Verlässlichkeit und das Vertrauen.
2.5 Kooperative Klärung von Leitbildern
Seinen eigenen Leitbildern kann man in Ansätzen durch Nachdenken auf die Spur kommen. Es gibt dazu aber auch diagnostische Instrumente zur Selbsterkundung, z. B. informelle, teilweise auch objektivierte und standardisierte Fragebogen – sofern man sich selbst gegenüber ehrlich ist. Hilfreicher noch scheint die Auseinandersetzung mit anderen Personen, »kritischen Freunden«, die als Spiegel dienen können, ungewohnte Perspektiven aufzeigen, auf blinde Flecken aufmerksam machen, Selbstverständlichkeiten infrage stellen (siehe Kapitel 3 »Spiegelkabinett – Wer bin ich, wer kann ich sein und woher weiß ich das?«und Kapitel 4 »Teamarbeit zwischen Belastung und Bereicherung«).
Das Lernarrangement KESS z. B., die »Kooperative Entwicklungsarbeit zur Stärkung der Selbststeuerung« von Bernhard Sieland (Sieland & Heyse, 2010) bietet Anleitungen dafür, wie man in solchen »Entwicklungsteams« Klarheit über sich selbst und seine Ziele erhalten und sich gemeinsam auf neue Wege und Ziele einlassen kann.
2.6 Leitbild und Gesundheit
Die Auseinandersetzung mit seinen eigenen Leitbildern ist auch unter dem Gesichtspunkt der Gesunderhaltung angezeigt.
Psychische Gesundheit kann als lebenslange Aufgabe verstanden werden (Heyse, 2011), immer wieder ein Gleichgewicht herzustellen zwischen
■seinen beruflichen und privaten Aufgaben, externen Erwartungen, Anforderungen und Belastungen, also dem SOLLEN,
■seinen Zielen, Ansprüchen, subjektiven Theorien, Qualitätsmaßstäben, Erwartungen, also seinem WOLLEN und
■seinem KÖNNEN, d. h. seinen kognitiven, emotionalen, sozialen und personalen Ressourcen, Fähigkeiten und Kenntnissen.
Unter dem Gesundheitsaspekt nimmt das WOLLEN eine besondere Stellung ein. Leitbilder manifestieren sich in unseren Zielen, Ansprüchen, subjektiven Theorien, Qualitätsmaßstäben, Wertvorstellungen. Unser WOLLEN (bzw. Nicht WOLLEN) definiert im Verhältnis zum KÖNNEN und SOLLEN, was wir als Herausforderung, Bewährung, Erfolg, Beglückung und Zufriedenheit erleben oder als Scheitern, Hindernis, Versagen, Fehler, Beeinträchtigung und Überforderung betrachten. Dabei kann ein leichtes Übergewicht des WOLLENs Ansporn für die eigene Weiterentwicklung sein, damit man nicht selbstgenügsam und das Leben langweilig wird. Wer sich jedoch immer wieder mit selbst gesetzten oder fremd bestimmten Zielen, die er durch eigenes Handeln auch nicht annähernd erreichen kann, überfordert, riskiert permanente Versagenserlebnisse mit der Folge der Resignation und der Gefahr von Depressionen. In diesem Zusammenhang empfiehlt sich die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen sogenannten inneren Antreibern. Darunter versteht man als Leitbilder wirksame Lebensmaximen, die wir im Lauf unserer Sozialisation erwerben, etwa: »Du bist nur was, wenn du was leistest«, »Mach es allen recht« oder »Du musst immer Sieger sein, lass dir nichts gefallen«. Andernfalls sind diese Imperative ein sicherer Weg, aus einem Leitbild ein Leidbild werden zu lassen.
Dieses Modul soll Sie anregen, sich mit Ihren Leitbildern auseinanderzusetzen, gleichsam wie in einem Leitbilder-Buch zu blättern. Jede dieser Fragen ist es wert, darüber zu reflektieren – am besten mit einem kritischen Freund. Denn wer sich seine Leitbilder nicht hin und wieder bewusst macht und ggf. anpasst, wird aus dem Rahmen fallen.
Meine Lebensleitbilder
■Woran orientieren Sie sich in Ihrem Handeln, Denken und Fühlen? Was sind Ihre ethischen und moralischen Wertvorstellungen? Was sind Ihre inneren Antreiber?
■Welche Rollen spielen für Sie Vorbilder, Verhaltenstypen, bestimmtes Modellverhalten?
■Wie möchten Sie Ihre beruflichen und privaten Rollen, Anforderungen, Aufgaben, Problemlagen, Krisen usw. angehen und bewältigen? Was möchten Sie gern – und was auf keinen Fall – erreichen?
■Wie gehen Sie mit sich widerprechenden Rollenleitbildern um? Wie lösen Sie Rollenkonflikte?
■Wie verhält es sich mit Ihrem KÖNNEN – WOLLEN – SOLLEN? Wie passen Ziele und Aufgaben mit den verfügbaren Ressourcen zusammen? Auf welche Ressourcen können Sie zurückgreifen?
■In welcher Art und Weise möchten Sie mit Anvertrauten, Abhängigen, Freunden, Gegnern etc. umgehen? Wie möchten Sie mit Ansehen, Macht und Autonomie umgehen?
■Was sind Ihre Ansprüche an Ihre Rollenpartnerin oder Ihren -partner, was erwarten Sie von ihnen? Wie vertragen sich Ihre Leitbilder mit denen der Partnerinnen und Partner? Wo ist Ihre Toleranzschwelle gegenüber
anderen Leitbildern?
■Wie möchten Sie von anderen gesehen werden?
■Sind Sie daran interessiert, Ihre Handlungen, Haltungen, Denkkategorien etc. zu evaluieren, Feedback dazu zu erhalten? Wie entwickeln Sie Ihre Orientierungsmuster weiter? Welchen Einfluss haben Veränderungen, Verluste, Zugewinne, Hindernisse bei Ihnen selbst und/oder in Ihrem Umfeld auf Ihre Vorstellungen von gelingendem Leben?
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