Hinter der Hütte stand ein alter Schilter – ein Motorkarren mit Ladebrücke –, der etwa in einem gleich erbärmlichen Zustand war wie der Jeep. Daneben lagen alte Reifen und Felgen, zwei leere Fässer, weiter hinten Motor- und Handsägen. Und in einem Holzbock, der mit frischen Spänen übersät war, steckte eine Axt. Vor dem grossen Tor zum Stall standen eine Sense, mehrere Rechen, Heu- und Mistgabeln. Alles machte einen sehr unordentlichen Eindruck.
Ein leises Surren war zu hören. Es kam eindeutig vom Stall. Selma öffnete das Tor einen Spaltbreit und schaute hinein. Es war nicht der eigentliche Stall, sondern eine kleine Scheune, die am Stall angebaut war. Auch dort präsentierte sich ein ähnliches Bild wie vor dem Tor: ein Durcheinander an Werkzeugen, Milchkannen, Körben. Eine weitere Sense lag auf dem Boden, mehrere Sicheln, eine grosse und eine kleine Säge. Selma entdeckte auch einige Plastikkannen und Kanister, auf denen chemische Zeichen und Warnplaketten prangten. Wozu braucht man solch gefährliche Produkte auf einer Alp?, fragte sich Selma. Weiter hinten stand eine Palette mit grossen Säcken, die ebenfalls mit Giftsymbolen gekennzeichnet waren. Schliesslich sah sie rechts in der Ecke die Quelle des monotonen Surrens: ein ziemlich neu aussehender Stromgenerator, auf dem «super silent» stand.
Die Reporterin schloss das Tor und ging zur Rückseite des Stalls. Hier roch sie Abgas. Sie sah ein Rohr, das durch ein schlecht abgedichtetes Loch in der Steinwand aus dem Stall und dann nach oben führte. Dort endete das Rohr. Feiner Rauch wurde herausgeblasen. Selma vermutete, dass es der Auspuff des Generators war.
Sie ging weiter und erreichte am anderen Ende des Stalls eine Betonfläche, die voller Kuhfladen war. Neben dem Trampelpfad, der von der Betonfläche auf die Weide führte, wuchsen Brennnesseln. Weiter hinten, gleich neben dem Misthaufen, sprudelte aus einem mit Schnitzereien verzierten Holzhahn Wasser in einen ausgehölten Baumstamm. Selma spähte kurz in den Stall, allerdings konnte sie nicht viel erkennen ausser einige Hinterteile von Kühen. Ein Tier muhte zünftig. Jetzt hörte Selma auch das leise, regelmässige Zischen der Melkmaschine.
Plötzlich schoss ein schwarzer Hund aus dem Stall. Selma erschrak. Der Hund wedelte, beschnupperte sie kurz und trabte wieder in den Stall zurück.
Selma schlenderte nach vorne zum Hütteneingang. Die Sonne war mittlerweile hinter den Bergen verschwunden. Selma machte noch einige Fotos. Ein kühler Wind kam auf. Selma fröstelte. Sie ging zum Rucksack, um sich einen Pullover zu holen.
Als sie hinkauerte und sich am Rucksack zu schaffen machte, kam ein alter Mann mit einem grossen Eimer aus der Türe und stiess gegen sie. Selma schaute erschrocken auf. Der Mann funkelte sie mit seinen grünen Augen an. Von seinem Gesicht war nicht viel zu sehen, da er einen wilden, grau-weissen Bart hatte und eine Mütze trug. Er roch nach Stall.
Der Mann murmelte irgendetwas, was Selma aber nicht verstand. Die Reporterin stand auf, entschuldigte sich, dass sie im Weg stehe und streckte ihm die Hand entgegen: «Ich bin Selma Legrand-Hedlund, ich bin …»
«Keine Zeit», murrte der Kerl bloss und ging mit seinem Kessel und dem Melkstuhl am Po an Selma vorbei zu den Schweinen, denen er Milch in die Tränke goss. Die Ferkel quietschten laut.
Na toll, dachte Selma, zuerst das verrückte Huhn und jetzt ein Brummbär! Sie schlüpfte in den Pullover, setzte sich auf den Rand des grossen Steinbrunnens, der einige Meter vor der Hütte stand. Neben dem Brunnen war ein kleiner Steingarten. Das war also Martinas Steinsammlung. Selma kauerte sich nieder und betrachtete einzelne Steine. Mit viel Fantasie entdeckte sie tatsächlich alle möglichen Figuren: Zwerge, Trolle, Tiere. Sie erinnerten Selma an Ediths Fabelwesen.
Die Reporterin stand auf und wusch ihre Hände im kalten Wasser des Brunnens. Das Wasser plätscherte unaufhörlich. Allein dieses monotone Geräusch wirkte auf Selma sehr entspannend. Sie hätte sich am liebsten ins Gras gelegt und die Augen geschlossen.
Doch sie riss sich zusammen. Denn der Himmel färbte sich langsam zartrosa. Es dunkelte schnell ein. Selma schoss noch eine Anzahl Fotos. Zuletzt machte sie eine Aufnahme mit dem Handy. Dann kontrollierte sie, ob sie Empfang hatte. Sie hatte. Schwach zwar, aber immerhin. Sie schickte das Abendhimmelbild via Whatsapp an Marcel. Dazu schrieb sie: «Hei Marcel, du Farbenpsychologe: Ist das nun rosa, rosarot oder nach Goethes Farbenlehre pfirsichblüt?»
Es verging keine Minute, bis Marcel zurückschrieb: «Wie wäre es mit orange-rot? Abendrot ist immer orange-rot. Laut Goethe. Solltest du als Malerin wissen.»
«Klugscheisser. Ich male nach Intuition.»
«Alles gut bei dir auf der Alp? Oder muss ich dich schon abholen?»
«Alles gut.»
«Ho! Ho!» Das war eindeutig Martinas Stimme. «Ho! Ho!»
Selma ging zum Stall und sah, wie die Kühe ins Freie traten. Einige gingen oder rannten direkt auf die Weide, andere trotteten gemächlich zum Baumstamm-Brunnen und tauchten ihre Mäuler ins Wasser. Der schwarze Hund sprang herum, bellte und trieb die Kühe auf die Weide.
Als Martina Selma erblickte, hüpfte sie auf sie zu und liess ihre langen Haare im Wind flattern. «Die Männer machen nun den Stall, ich koche. Hilfst du mir?»
«Klar.»
«Hast du dein Zimmer schon entdeckt? Es ist da oben. Einfach die Aussentreppe hinauf und rechts. Du musst das Zimmer allerdings mit mir teilen. Ist das okay für dich? Wir kommen schon klar, was?»
In der Hütte war es warm. Mitten im Raum war die Feuerstelle mit Glut, ein Wassertopf hing darüber. Rechts auf einem grossen Schwenkarm aus Holz war das kupferne Käsekessi, abgedeckt mit einem Holzdeckel. Daneben waren fein säuberlich mehrere Schöpfkellen, die Käseharfe und viele weitere Utensilien aufgehängt.
Gleich hinter der Käserei, dem Hauptraum der ganzen Alphütte, befand sich die Küche. Dort herrschte im Gegensatz zur Käserei ein ähnliches Chaos wie hinter dem Stall. Auf dem Gasherd standen Pfannen, der Spültrog war voll mit schmutzigen Tellern, auf dem grossen Esstisch, der mit einem blumigen Plastiktischtuch bezogen war, befanden sich ein angeschnittenes Brot, eine offene Biskuitpackung und schmutzige Kaffeetassen.
«Ich muss nur kurz aufräumen, dann kann’s losgehen», meinte Martina und begann, rasant abzuwaschen. Selma half ihr. Dann kramte die Sennerin aus der Ikea-Tasche eine Packung Nudeln heraus und holte aus dem Schrank ein Einmachglas, das Martina der Reporterin stolz als selbst gemachte Tomatensauce präsentierte.
Keine halbe Stunde später rief Martina die Männer zum Essen. Der bärtige, alte Mann, mit dem Selma vor der Hütte zusammengestossen war, erschien nun ohne Mütze und nickte ihr wortlos zu. Dann betrat ein gross gewachsener Kerl die Küche, der ebenfalls einen Bart hatte. Keinen richtigen Bart. Auch keinen Dreitagebart. Es waren vielmehr einzelne Barthaare.
Er schaute Selma nicht an, nickte bloss, setzte sich und schöpfte sich und dem Alten die dampfenden Nudeln in die Teller. Schliesslich kam ein hagerer, etwas jüngerer Mann, glatt rasiert und wohlduftend, der sofort zu Martina stürmte und Selma nicht wahrzunehmen schien.
«Ich bin frisch geduscht», sagte er lächelnd zu Martina. «Riech mal!»
«Stefan, wir haben einen Gast», machte ihn Martina auf Selma aufmerksam. «Die angekündigte Reporterin! Sie hat den Weg tatsächlich gefunden. Ich habe ihr aber ein bisschen geholfen.»
«Hei», sagte Selma und reichte Stefan die Hand. «Ich bin Selma.»
Stefans Hand war gross, rau und kräftig. Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand. «Selma Legrand-Hedlund», sagte er. «Ich weiss. Und deine Schwester heisst Elin. Die Basler Mädchen.» Er wandte sich dem Alten zu: «Papa, erkennst du sie nicht?»
Der Alte schaute nicht von seinem Teller auf.
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