«Für mich ist die Haltestelle Universitätsspital immer noch der Totentanz», sagte Selma jetzt. «Ist mir schleierhaft, warum man diese Haltestelle umgetauft hat. Schliesslich ist und bleibt das der Totentanz.»
«Ja, aber beim Totentanz liegt halt auch das Universitätsspital. Und ganz ehrlich, Selma: Möchtest du in ein Spital einrücken, dessen Bushaltestelle Totentanz heisst?»
«Du philosophischer Psychologe», foppte ihn Selma.
Marcel stoppte und öffnete die Türen: «Hast du von Haberer einen neuen Fall erhalten?»
Selma lächelte nur.
«Okay, wann geht’s los?»
«Bald. Ich melde mich.» Selma stieg aus und warf Marcel wie immer eine Kusshand mit den immer gleichen Worten zu: «Pass auf dich auf, mein Liebster.»
«Pass auf dich auf, meine Liebste.»
Selma ging durch den kleinen Park zu ihrem Haus am Totentanz und betrat Leas Coiffeursalon.
«Kannst du etwas machen?», fragte sie ihre Freundin und zupfte an ihren Haaren herum.
«Der Anlass?»
«Fotoreportage auf einer Alp.»
«Hm? Kurzhaarfrisur?»
Selma zog entsetzt die Luft ein.
«Na, dann kürze ich hinten und auf der Seite ein bisschen, so dass du einen schönen Schnitt hast, die Haare aber gut zusammenbinden oder hochstecken kannst. Falls du Kühe melken musst.»
«Kühe melken?»
«Das macht man doch auf einer Alp. Und käsen.»
«Ich fotografiere aber.» Noch einmal fuhr sie mit ihren Händen durch die langen Haare. «Also gut. Schneiden. Aber nicht zu kurz.»
«Keine Angst. Wie immer. Aber du musst noch ein bisschen warten. Habe gerade eine andere Kundin. Geniess in der Zwischenzeit die Kopfmassage.»
Eine Auszubildende wusch Selma die Haare und massierte gekonnt Selmas Kopf. Die Reporterin schloss die Augen und dachte an die wunderschöne Bergwelt und freute sich immer mehr über den Auftrag.
Ihr vibrierendes Handy holte sie in die Realität zurück. Nach dem die Auszubildende ihre Behandlung beendet hatte, warf Selma einen Blick auf ihr Smartphone. Haberer hatte ihr tatsächlich das Mail geschickt.
Die Alpwirtschaft, die sie besuchen sollte, lag bei Gstaad, oberhalb des Lauenensees. Selma spürte, wie ihr Puls schneller wurde.
Haberer hatte auch den Namen der Bauernfamilie geschickt.
Selma bekam Herzrasen.
4
Die Reporterin wuchtete den schweren Rucksack auf die Ablage des Zugabteils und liess sich in den Sitz plumpsen. Aus ihrem zweiten kleinen Rucksack, den sie als Handtasche verwendete, kramte sie das Handy hervor und wollte es gerade einschalten. Im noch dunklen Bildschirm erkannte sie aber ihr Spiegelbild und konnte nicht anders, als einmal mehr ihre Frisur zu überprüfen. Um sich besser zu sehen, schaltete sie das Smartphone ein, wählte in der Foto-App den Selfie-Modus und sah sich nun auf dem Display wie in einem Spiegel. Nein, sie konnte sich mit ihrer Frisur einfach nicht anfreunden. Lea hatte in den vergangenen Tagen noch drei Mal Hand anlegen müssen. Das letzte Mal kurz vor der Abreise. Die Coiffeuse hatte sie ausdrücklich davor gewarnt, dass ihre Haare irgendwann zu kurz sein könnten.
Nun war es definitiv so weit. Die Haare waren zwar noch knapp schulterlang, aber für Selma definitiv zu kurz.
Sie versuchte es zuerst mit einem Haargummi, dann mit einer Klammer, mit einem Haarreif, schliesslich mit der Sonnenbrille, die sie sich ins Haar steckte – sie fand alles doof. Also schüttelte sie ihre Haare und klickte auf dem Handy die Foto-App weg. Sie wollte sich nicht mehr sehen.
Der Zug fuhr an. Selma legte das Smartphone zur Seite und schaute zum Fenster hinaus. Was für ein schöner Sommertag! Mit der vorbeiziehenden Landschaft flogen Selmas Gedanken davon. Zurück in ihre Jugend. In das Chalet im Saanenland, das ihre Familie so oft im Sommer oder im Winter gemietet hatte. Sie erinnerte sich an all die Wanderungen, die ihr damals so endlos lange und mühsam vorgekommen waren. An ihren Vater Dominic-Michel, den leidenschaftlichen Berggänger, der die Familie angetrieben und stets das Tempo vorgegeben hatte.
Selma musste lachen. Sie sah vor ihrem inneren Auge gerade das verbissene Gesicht ihrer Mutter, wie sie wortlos hinterherkraxelte.
Dann gab es diese Bauernfamilie in der Nachbarschaft. Der mürrische Vater und die lebenslustige Mutter mit den schönen, langen, goldschimmernden Haaren. Und die beiden Buben, die Elin so blöd fand. Fand sie sie wirklich blöd? Ach, Elin war doch einfach noch zu jung. Selma dagegen …
Die Kohlers. So hiessen sie. Was ist aus ihnen geworden?, fragte sich Selma. Sie hatte im Internet gesucht, aber nichts gefunden. Waren es wohl dieselben Kohlers, die sie jetzt besuchen würde? Würde sie ihn tatsächlich wiedersehen, den älteren der beiden Brüder?
Ihr Herz klopfte sofort wieder schneller. Nervös drehte sie an dem silbernen geflochtenen Ring an ihrer rechten Hand.
Im Bahnhof Bern marschierte Selma zum Treffpunkt und schaute sich nach Jonas Haberer um. Es erstaunte sie nicht, dass er noch nicht da war. Menschen kamen und gingen, einige rannten, andere standen wie die Reporterin etwas ratlos herum und warteten. Ein lautes Stimmengewirr, jemand rief nach jemand anderem, einer johlte – und plötzlich vernahm Selma ein vertrautes Geräusch.
Klack – klack – klack.
Sie drehte sich um, erblickte Jonas Haberer und wurde sogleich unsanft umarmt.
«Selmeli!», schrie ihr Haberer ins Ohr. «Du bist ja noch schöner geworden.»
Selma löste sich aus der Umarmung und schaute Jonas Haberer auf die Füsse. «Sag nicht, dass du immer noch die gleichen, roten Cowboystiefel trägst wie damals?»
«Aber natürlich. Die sind in der Zwischenzeit mit meinen Füssen verwachsen.» Haberer lachte laut und ordinär und schob Selma in Richtung Rolltreppe. Klack – klack – klack. Seine schweren Schritte übertönten beinahe den Lärm der Bahnhofshalle und zogen viele Blicke auf sich.
«Am liebsten hätte ich ein Bier, aber es ist wohl noch zu früh dafür. Feiern wir unser Wiedersehen also mit Kaffee.»
In einem Bistro zeigte Jonas Haberer Selma das Konzept der Alpreportage und präsentierte ihr auch schon ein Layout.
«Das habe ich den Versicherungsmenschen gezeigt», erklärte Haberer. «Sie waren begeistert! Heile Welt. Sonnenaufgang. Sonnenuntergang. Alpsegen! Mond. Sterne. Kühe, Käse, Jungtiere, Jö. Dazu naturverbundene, schöne Menschen. Und fröhlich müssen sie sein. Sie sind ja gut versichert, du weisst, was ich meine?»
«Also eine Werbereportage?», stellte Selma trocken fest.
«Das darfst du nicht so sehen, Selmeli. Wir Journalisten müssen anders denken als früher. Moderner.»
«Moderner? Aha.»
«Genau. Pass auf, die bezahlen gut für diese Reportage. Wirklich gut. Und es ist eine schöne Sache. Das leistet sich doch sonst kein Magazin mehr heute, ausser es hängt am Tropf einer Geldmaschine. Also! Und dann verkaufe ich die Reportage später lukrativ weiter. Das geht für die Leute von ‹Service Versicherungen› in Ordnung. Habe ich extra für dich so ausgehandelt.»
Jonas kramte noch einige Unterlagen aus seiner Ledertasche. «Der alte Haberer hat schon recherchiert und einige Zahlen und Fakten zur ganzen Alpwirtschaft zusammengestellt. Damit du dich ganz auf tolle Bilder und ein paar nette Aussagen der lustigen Älpler konzentrieren kannst. Bin ich nicht toll?»
«Warum machst du die Reportage nicht selbst?»
«Ich kann weder fotografieren noch habe ich Lust auf Berge. Zudem muss ich für einige Politiker ein paar Reden schreiben und irgendwelche Lügenkommuniqués aufsetzen. Ich bin mittlerweile ein ziemlich guter Fake-News-Produzent.» Wieder lachte Haberer laut und unangenehm.
«Du hast zwar die Seiten gewechselt, bist aber immer noch der Gleiche wie früher.»
«Ich bin noch genau der Gleiche. Und glaubst du wirklich, mir macht das Spass? Mein Haudegen-Journalismus ist heute zwar nicht mehr gefragt, aber ich bleibe eine Boulevard-Ratte.» Haberer kramte noch ein Papier hervor: «Das habe ich auch noch gefunden.» Er schob es Selma zu.
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