Jüngste Bemühungen in »Ereignisattribution« stützen diese Annahme. Jeder einzelne Sturm ist das einmalige Resultat eines chaotischen Gemischs von Wetterkomponenten, jedoch modifiziert die globale Erwärmung die Basis, von der aus diese gebildet werden. »Das Klima verändert sich: Wir haben eine neue Normalität«, lässt ein Forschungsteam wissen: »Die Umwelt, innerhalb derer sich all diese Wetterereignisse ereignen, ist nicht mehr das, was sie einmal war. Alle Stürme sind ausnahmslos verschieden.« Dementsprechend ritt der Supersturm Sandy, der im Oktober 2012 weite Teile New Yorks erschütterte, auf Meeresspiegeln voran, die um etwa 19 Zentimeter erhöht waren, während hohe Meeresoberflächentemperaturen außergewöhnliche Mengen an Wasserdampf als Munition für die Wolken in die Luft beförderten. 7Ähnliche Faktoren verstärkten den Supertaifun Haiyan – der bis dato stärkste je aufgezeichnete und auf Land treffende Sturm –, als er im November 2013 durch die Philippinen fegte, mehr als 6000 Menschen tötete und wochenlang Leichen im Meer auf und ab treiben ließ. 8»Kein singuläres Ereignis lässt sich auf den Klimawandel zurückführen«, lautet ein gebetsmühlenartiger Refrain in den Medien, aber ein Beobachtungs- und Modellierungsschub bekräftigt mittlerweile die weitverbreitete Annahme, dass dieses ganze extreme Wetter ohne einen solchen Wandel nicht eingetreten wäre. Individuelle Ereignisse können sehr wohl dem Temperaturanstieg zugerechnet werden, sogar mit jährlich steigender wissenschaftlicher Genauigkeit. Schon als sich die Erde um gerade mal 0,85 Grad Celsius erwärmt hatte, konnten drei von vier Aufzeichnungen extremer Hitze an Land aus dem allgemeinen Trend abgeleitet werden, und wenn die Temperaturen weiterhin steigen, wird der Klimawandel einen noch größeren Anteil der Kausalität für sich in Anspruch nehmen. 9Er wird geradezu zur universalen Erfahrung: Ein Großteil der menschlichen Bevölkerung ist in den letzten zehn Jahren einem abnormal warmen Wetter ausgesetzt gewesen. 10Doch das von Menschen verursachte Wetter ist niemals ein Produkt der Gegenwart.
Die globale Erwärmung ist das Resultat von Handlungen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben. Jedes CO2-Molekül über dem vorindustriellen Niveau befindet sich in der Atmosphäre, gerade weil die Menschen im Laufe der Zeit Bäume und andere Pflanzen, allem voran aber fossile Brennstoffe verbrannt haben. War der Kohlenstoff zu Beginn noch in der Kohle, waren Öl und Erdgas noch innerhalb der Erdkruste eingeschlossen, wurden diese Reserven schließlich irgendwann entdeckt und erschlossen und die Brennstoffe an die Feuerstellen gekarrt, von wo aus der Kohlenstoff als CO 2freigesetzt wurde. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt beschreibt der Wärmeüberschuss im Erdsystem somit die Summe all dieser historischen Feuer, der kumulativen Emissionen, der aufeinandergeschichteten CO2-Ausstöße: Der Sturm des Klimawandels bezieht seine Kraft streng genommen aus unzähligen Verbrennungen der letzten beiden Jahrhunderte. Wir können niemals in der Hitze des Moments sein, nur in der Hitze der fortwährenden Vergangenheit . Insofern extreme Wetterereignisse von basaler Erwärmung geprägt werden, handelt es sich bei ihnen um das Vermächtnis dessen, was Menschen getan haben, um die jüngsten Triebe einer schädlichen Saat – in der Tat, die Luft geht schwanger mit der Zeit. 11
Als Walter Benjamin in der Zwischenkriegszeit die Städte Europas durchstreifte, notierte er flüchtig einen Wegweiser für weitere Untersuchungen: »Über die Doppelbedeutung von ›temps‹ im Französischen«: temps wie Wetter und Zeit. 12Höchstwahrscheinlich wurzelt die semantische Überlappung in der ursprünglichen Erfahrung des Jahreszeitenzyklus, der den Arbeitskalender früherer Zeiten vorgab, als Sonne, Wolken, Regen und Schnee den Rhythmus des Jagens, Säens, Erntens und vieler anderer Aktivitäten bestimmten. Auf diese Zeit folgte eine Epoche, in der (einige) Menschen lebten, als wären sie vom Wetter abgeschnitten – »unsere Jahreszeiten«, vermerkt Jameson, »gehören der postnatürlichen und postastronomischen Fernseh- und Medienvielfalt an« –, doch allmählich und zugleich wie aus dem Nichts sickert die ursprüngliche Bedeutung wieder in den Alltag ein. 13Dieses Mal jedoch präsentiert sich das Wetter kaum mehr als etwas, wonach die Uhr zu stellen ist. Es neigt vielmehr dazu, Zeitpläne und Routinen kraft des Gewichts, welches ihm aus der Vergangenheit anhaftet, durcheinanderzuwirbeln. Als solch ein Unwetter [tempest] ist ihm eine verquere, multiple Zeitlichkeit zu eigen, wie sich auch Lerners Protagonist eingestehen muss, als er während eines oktoberlichen Spaziergangs zwanghaft von Tagen »unzeitgemäßer Wärme« berichtet:
Die ungewöhnliche Wärme kam einem sommerlich vor, doch das Licht war eindeutig herbstlich, und die Vermischung der Jahreszeiten spiegelte sich in der Kleidung um sie herum wieder […]: zwei zu einem einzigen Bild zusammengefallene Zeitlichkeiten. 14
Noch angemessener mag sein Gefühl sein, »er wäre in der Zeit zurückgereist oder verschiedene Zeiten hätten sich übereinandergelegt, Zeitlichkeiten miteinander verflochten«, denn jedwede Folge des Klimawandels ist, physikalisch betrachtet, eine Kommunikation mit einer menschlichen Vergangenheit. 15Doch greifen die Verbindungen nicht bloß auf Vergangenes zurück. Der Schatten des anthropogenen CO2 wirft sich gleichermaßen auf das Absehbare und erstreckt sich bis hinein in die unergründliche Zukunft. Ein Team höchst prominenter Wissenschaftler:innen, das sich mit diesem speziellen Aspekt beschäftigt, weist darauf hin, dass 2100, das Jahr also, in dem die meisten Szenarien und Projektionen abrupt enden – bis 2100 wird es diesen oder jenen Meeresspiegelanstieg geben, diese oder jene extreme Hitze –, keinen wirklich abschließenden Status innehat. Die weitverbreitete Verwendung dieses Bezugspunkts ergibt sich lediglich aus einer computertechnologischen Panne, insofern die ersten Modelle nicht in der Lage waren, Wissenschaftler:innen weiter als bis zu diesem Datum zu führen. Greifbar und bequem ergibt sich daraus, so das Team, die Illusion, die nun in der Schwebe hängende Zukunft würde relativ kurz sein, ein Kopfschmerz für das 21. Jahrhundert, während das Gros des Temperaturanstiegs und praktisch der ganze, durch beliebig vorhandene kumulative Emissionsmengen produzierte Meeresspiegelzuwachs in Wahrheit – sofern es dem Erdsystem überlassen sein wird, die Konsequenzen abzuarbeiten – mindestens die nächsten 10 000 Jahre fortdauern und die Meere unter Umständen auf eine Höhe von rund 50 Metern über dem heutigen Spiegel angestiegen sein werden. Vieles davon kann nach wie vor vermieden werden. Und ebendiese Möglichkeit überfrachtet unseren gegenwärtigen Moment mit Zeit. »Die nächsten Jahrzehnte«, folgert das Team demgemäß, »bieten ein kurzes Zeitfenster, um den großflächigen und potenziell katastrophalen Klimawandel zu mindern, der länger andauern wird als die gesamte bisherige Geschichte der menschlichen Zivilisation«. 16Eine Ewigkeit wird heute schon beschlossen.
Für jedes Jahr, in dem die vollständige Dekarbonisierung der Weltwirtschaft aufgeschoben wird – gar nicht zu sprechen von all den Jahren, in denen die Emissionen gleichbleibend oder steigend sein werden –, dehnt sich der Schatten der gemachten Erwärmung ein Stück weiter in die Zukunft aus. 17Für jedes solches Jahr werden weitere Auswirkungen unausweichlich. Und es hat schon viele solcher Jahre gegeben. Entsprechend deutete eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten aus den Jahren 2014 und 2015 darauf hin, dass der Hauptabschnitt des Westantarktischen Eisschildes seinen Kipppunkt überschritten habe und auf seine irreversible Schmelze zusteuere, während, noch spektakulärer, ein ebenso großer Gletscher auf dem östlichen Teil des Kontinents – von dem man lange Zeit dachte, er sei sicher vor der Erwärmung – womöglich gleichfalls in Richtung Meer abrutschen wird. 18»Was auch immer wir jetzt tun«, verkündete das populäre Magazin New Scientist wohl etwas überspitzt, »die Meere werden um mindestens fünf Meter steigen«. 19Da Gletscherbewegungen sprichwörtlich langsam sind, hielt die wissenschaftliche Meinung lange an dem Glauben fest, dass es mehrere Jahrtausende dauern würde, bis es zu einem Meeresspiegelanstieg dieser Größenordnung kommt, doch eine der aufsehenerregendsten Publikationen der letzten Jahre argumentiert, dass Eis, welches »mehreren Metern« des Wasserspiegels entspricht, im schlimmsten Fall bereits in diesem Jahrhundert in die Ozeane stürzen könnte, ein Großteil davon während der Lebenszeit vieler junger Menschen, die heute in küstennahen Gebieten wohnen. 20Mit all diesen konstant überarbeiteten und aktualisierten Zahlen versuchen Wissenschaftler:innen, den Ansturm eines Fluchs aus der Vergangenheit oder einer Erbschuld zu versinnbildlichen, dem zu entkommen sich als immer schwieriger erweist. Lerners Protagonist stellt sich die Stadt bald unter Wasser vor. 21
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