»Na, mach schon, mein Junge!«
Sie sprach nicht mit mir, sondern mit dem Mann auf dem Bildschirm; doch in diesem Moment verschmolzen wir mit diesem Mann auf dem Bildschirm. Und ich fühlte mich geliebt.
Ich wünschte, ich könnte sagen, die Stadt auf der Leinwand war Cleveland, doch es hätte auch Detroit, D. C., Cincinnati, Chicago, Kansas City, Baltimore, Pittsburgh, Trenton, New Jersey oder Wilmington in Delaware sein können. Es hätte allerorts und überall sein können. Es waren keine Brände zu sehen, doch der Rauch bauschte sich über zerstörten Gebäuden. Bremsspuren vernarbten die Straße, wo ein Mann ohne Hemd und mit einem Kopftuch, das um seine Conk-Frisur geschlungen war, einen Einkaufswagen den Boulevard entlangdonnerte. Großmutter Jules lachte, als krachte ihre Brust von Kohlensäure. Ich verstand sofort, dass das Priestertum für mich dahin war. Ich wollte zu einem Plünderer heranwachsen und meine Grandma stolz machen.
Unser Krach rüttelte die gigantischen Spielverderber wach, denen das Haus gehörte. Meine Mutter kam nach unten und sagte ihrer Mutter, sie solle so etwas nicht sagen. Ich sah meine Mutter als Silhouette, das Licht aus dem Esszimmer stand in ihrem Rücken, sie war von den französischen Schiebetüren des Wohnzimmers gerahmt. Sie war anmutig, selbst wenn sie stillstand. Sie und Vater modelten in Modenschauen, die veranstaltet wurden von der Boulé und der Links, zwei der Schwarzen bürgerlichen Gruppen, denen meine Eltern angehörten. Der ganze Raum fiel in Schweigen, wenn die beiden den Laufsteg entlangstolzierten. Moms Freundinnen sagten, sie sehe aus wie Donyale Luna, die 1966 die Welt im Sturm erobert hatte, als sie zur ersten Schwarzen Frau wurde, die das Cover der Vogue zierte. Und ich mühte mich ab, zu verstehen, wie das Blut in der hellen Haut und dem schlanken Körper meiner Mutter dasselbe Blut sein konnte, das durch meine Großmutter floss, die klein und dunkel war wie der aus einem Halsknochen gesogene Saft, und die auf dem Dämpferpedal herumstampfte, wenn sie Klavier spielte. Im Alter von 36 Jahren stand meine Mutter auf der Schwelle, eingerahmt von ihrem Vorwurf, und sprach mit ihrer 63-jährigen Mutter, als wären ihre Lebensalter umgekehrt. Meine Großmutter und ich sahen sie an wie zwei Kinder, die beim Schabernack erwischt worden waren. »Sag das nicht, Mutter. Als Nächstes sagt er so was in der Schule. Er ist schon eigenwillig genug.«
Als wir uns wieder dem Fernseher zuwandten, war der Mann mit dem der Conk-Frisur, dem Kopftuch und dem Einkaufswagen verschwunden. Mom ging nach oben, und wir machten weiter unsere Mätzchen.
»Warum sind wir verrückt vor Wut?«, fragte ich meine Großmutter, während wir die Rauchfahnen ansahen, die von den Flachdächern emporstiegen.
»Weil wir keinen Job ham?«, sagte ich mit einem Kichern und schaute vorsichtig auf die französischen Türen, ob dort meine Mutter stünde, um mich für mein ham zurechtzuweisen.
»Nein«, antwortete Großmutter, »es geht nicht um Jobs.«
»Weil wir kein warmes Wasser ham?«
»Es geht nicht um Wasser, Kind.«
»Weil wir im Getto leben.«
»Frankie, du bist nicht im Getto«, sagte sie leise lachend, »und du bist verrückt.« (Woher sie das wusste, war mir ein Rätsel, denn ich kann mich nicht erinnern, ihr jemals erzählt zu haben, was in der Schule vor sich ging).
Dann sagten wir auf drei: »Wir sind wütend auf die Welt!« Oben auf der Treppe hörten wir: »Mutter, bitte!«
Es wäre zu weit hergeholt zu sagen, dass meine Großmutter eine Afropessimistin war. Doch Afropessimismus ist keine Kirche, in der man betet, und auch keine Partei, die man wählt oder abwählt. Afropessimismus sind Schwarze in ihrem bestmöglichen Zustand. »Wütend auf die Welt«, das sind Schwarze in ihrem bestmöglichen Zustand. Afropessimismus gibt uns die Freiheit, laut auszusprechen, was wir sonst flüstern oder leugnen würden: dass keine Schwarzen in der Welt leben, dass es aber ebenso wenig eine Welt ohne Schwarze gibt. Die Gewalt, die gegen uns verübt wird, ist keine Form von Diskriminierung; sie ist eine notwendige Gewalt; ein Stärkungsmittel für alle, die nicht Schwarz sind; eine Ansammlung von sadistischen Ritualen und von sadistischer Gefangenschaft, die nur dann über all jene Menschen, die keine Schwarzen sind, kommen könnte, wenn sie dieses oder jenes »Gesetz« brächen. Diese Art von Gewalt kann einem empfindungsfähigen Wesen unter zwei Umständen widerfahren: Eine Person hat das Gesetz gebrochen und ist also angesichts der geltenden Regeln aus der Reihe getanzt; oder die Person ist ein Sklave, und es sind keinerlei Vorbedingungen erforderlich, damit sich ein Akt der Brutalität vollziehen kann. Es gibt keinen Antagonismus wie den Antagonismus zwischen Schwarzen und der Welt. Dieser Antagonismus ist der Kern dessen, was Orlando Patterson als »sozialen Tod« bezeichnet, in den Worten von David Marriott: deathliness,12 eine Tödlichkeit, eine Todhaftigkeit. Es ist das Wissen und die Erfahrung alltäglicher Ereignisse, in denen die Welt dir sagt, dass du gebraucht wirst als Ziel ihrer Aggressivität und ihrer Erneuerung.
Der Antagonismus zwischen dem postkolonialen Subjekt und dem Siedler (Sand-Creek-Massaker oder palästinensische Nakba) kann – und sollte – nicht mit der Gewalt des sozialen Todes analogisiert werden: mit der Gewalt der Sklaverei, die 1865 nicht endete, aus dem einfachen Grund, weil die Sklaverei 1865 nicht endete. Sklaverei ist eine relationale Dynamik – kein Ereignis und schon gar kein Ort im Raum wie der Süden; genau wie der Kolonialismus eine relationale Dynamik ist – und diese relationale Dynamik kann fortbestehen, auch wenn der Siedler die Regierungsmacht zurückgelassen oder abgetreten hat. Und beide Beziehungen werden durch radikal unterschiedene Gewaltstrukturen gesichert. Der Afropessimismus bietet eine analytische Linse, die als Korrektiv zur logischen Vorannahme des Humanismus wirkt. Er stellt einen theoretischen Apparat zur Verfügung, der es Schwarzen erlaubt, nicht durch die List der Analogie belastet zu werden, denn Analogie mystifiziert das Leiden der Schwarzen, anstatt es zu klären. Die Analogie mystifiziert die Beziehung der Schwarzen zu anderen People of Color. Der Afropessimismus bemüht sich, diese Mystifizierung aufzulösen – ohne Furcht vor den Klüften und Rissen, die sich während dieses Prozesses ergeben.
Großmutter Jules würde sich im Grabe herumdrehen, wenn sie wüsste, dass ich sie für eine Afropessimistin halte. Sie war eine Katholikin, die keine Beichte ausließ. Als sie jedoch in den Ruhestand ging, wurde ihre Sprache von der List der Analogie befreit, was bedeutete, dass sie getrost sagen konnte, wir seien nicht aus den Gründen wütend, aus denen es Menschen waren, die unter Klassenunterdrückung, Geschlechterdiskriminierung oder Kolonialherrschaft litten. Ihre Wut hatte Erdungsdrähte tief im Inneren der Welt. Wir waren diese Erdungsdrähte der Welt. Wir waren die Zielscheibe von Wut, die sich sonst gegen sich selbst richten müsste. Schwarze Menschen waren der lebendige, atmende Widerspruch des Lebens an sich. Und insofern wir zu alt (wie Großmutter Jules) oder zu jung (wie ich) waren, um zu wissen, was meine Mutter wusste, wiesen wir die List der Analogie zurück und ließen unsere Wut ihre Wahrheit sprechen: Für seine Existenz und für seinen Zusammenhalt ist das Leben der Menschheit vom Tod der Schwarzen abhängig. Blackness und slaveness, das Schwarzsein und das Sklavesein, die »Sklavigkeit«, sind derartig untrennbar miteinander verschlungen, dass Sklavesein zwar von Schwarzsein getrennt werden kann, Schwarzsein aber niemals als etwas anderes existieren kann denn als Sklavesein. Es gibt keine Welt ohne Schwarze, und doch gibt es keine Schwarzen, die in der Welt sind. Du musstest sehr jung oder sehr alt sein, damit diese Eucharistie deine Lippen berühren konnte.
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