Der dritte Stand bestand aus Bauern und Bürgern. Diese machten ungefähr 90 Prozent der mittelalterlichen Bevölkerung aus. Unter ihnen herrschten große Unterschiede hinsichtlich der Vermögensverteilung. Die so genannten freien Bauern besaßen ein eigenes Stück Land, das sie bewirtschaften konnten. Der größere Teil der bäuerlichen Bevölkerung aber war besitzlos und ohne eigene Rechte, also unfrei. Man nannte sie Leibeigene und sie wurden von ihren Gutsherren häufig ausgebeutet. Als Gegenleistung für das ihnen zur Verfügung gestellte Stück Land zahlten sie relativ hohe Abgaben oder leisteten Frondienste. Sie zogen für ihren Herrn in den Krieg und waren ihm meist ein Leben lang zu Gehorsam verpflichtet. Im Gegenzug verpflichtete sich der Gutsherr, seinen Untergebenen „Schirm und Schutz“ zu bieten.
Die Masse der bäuerlichen Bevölkerung führte ein karges, von Hunger bedrohtes Leben. Die Menschen hausten zumeist in engen und düsteren Hütten. Heizmaterial war vielfach knapp, und unzureichende hygienische Bedingungen gefährdeten die Gesundheit der ärmlichen Bevölkerung. Die weit verstreuten Weiler bzw. Ortschaften waren größtenteils nur durch schlechte Straßen oder Wege miteinander verbunden.
Wanderprediger lehrten öffentlich auf Straßen und Plätzen. Häufig in Lumpen gehüllt, streiften sie mit ihren Gefährten umher und erbettelten sich ihren Lebensunterhalt. Auf den Straßen begegnete man arbeitslosen Handwerkern, verarmten Vagabunden und nicht selten Aussätzigen. Gewalt und Brutalität waren Folgeerscheinungen der ungerechten Vermögensverhältnisse und der oft aussichtslosen Perspektiven vieler Tagelöhner.
Mit zunehmendem Aufstieg der Städte im 12. Jahrhundert zogen immer mehr Menschen vom Land in die Stadt. Auch so genannte Unfreie versuchten ihren elenden Arbeits- und Lebensbedingungen zu entfliehen. Wenn sie von ihrem Herrn nicht innerhalb eines Jahres zurückbeordert wurden, gelang es ihnen sogar, frei zu werden. In den Städten entstanden nach und nach Märkte, die sich mancherorts bald zu beachtlichen Wirtschaftszentren entwickelten. Handwerk und Handel erfuhren eine Blütezeit, manche Bürger wurden mächtiger und reicher als viele Adelige.
Ein Kontinent bewegt sich
Als Hildegard geboren wurde, veränderte sich das Gesicht Europas allmählich. Die Bevölkerung wuchs, neue Flächen wurden urbar gemacht und neue Städte gegründet. Bessere landwirtschaftliche Geräte und effizientere Anbaumethoden führten zu einem deutlichen Aufschwung. Die Ländereien wurden dichter besiedelt und die Städte entwickelten sich zu bedeutenden Zentren. Ein selbstbewusstes Bürgertum gewann immer mehr an politischem Einfluss und emanzipierte sich allmählich von der kirchlichen Vorherrschaft. Der Aufwärtstrend zeigte sich auch an der Verbreitung der so genannten schönen Künste – vornehmlich an Fürstenhöfen sowie in den Städten. Die Minnelieder oder beeindruckende Kirchenbauten zeugen heute noch vom künstlerischen Glanz dieser Epoche.
Durch die enge Verbindung von Kirche und Staat hatten viele Fürsten kirchliche Ämter und Güter inne. Ebenso lebten viele Bischöfe als Vasallen des Königs wie weltliche Fürsten und waren stark in wirtschaftliche und politische Geschäfte verstrickt. Dieses Missstandes überdrüssig, wandte sich Hildegard von Bingen als Äbtissin brieflich an den römisch-deutschen König Friedrich I. Barbarossa [später Kaiser des römisch-deutschen Reichs], um sich gegen den Kauf von Kirchenämtern (Simonie) und die so genannte Laieninvestitur starkzumachen. 1Diese Praxis bedeutete, dass kirchliche Amtsträger von weltlichen Herrschern (anstatt von den zuständigen Bischöfen bzw. dem Papst) eingesetzt wurden. Zwischen Barbarossa und dem Papst war es zu starken Spannungen und schließlich zu einem erbitterten Machtkampf gekommen. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation wollte zusätzlich zu seiner irdischen Macht auch zum Beherrscher der Kirche werden. Er schaltete sich in die Papstwahl ein und übte Einfluss auf die Ernennung von Bischöfen aus. Erst das Wormser Konkordat von 1122 konnte den Investiturstreit zwischen dem Papst und dem König bzw. Kaiser lösen.
1095 rief Papst Urban II. auf dem Konzil von Clermont zum Ersten Kreuzzug auf, um die heiligen Stätten in Jerusalem von der islamischen Herrschaft zu befreien und christliche Zentren im Nahen Osten zu errichten. Den Kreuzrittern versprach die Kirche den Nachlass ihrer Sündenstrafen. Schlechte wirtschaftliche Verhältnisse und religiöse Begeisterung trugen dazu bei, dass sich immer mehr Christen für die Idee, die christlichen Stätten in Palästina zurückzugewinnen, begeistern ließen. Neben dem einfachen Volk waren im kriegerischen „Pilgerzug“ auch Ritter und fürstliche Würdenträger aller Rangstufen zu finden. Der angesehene Zisterzienser-Mönch Bernhard von Clairvaux – bald nach seinem Tod heiliggesprochen und Jahrhunderte später zum Kirchenlehrer ernannt – stellte seine herausragende Begabung zum Predigen und seinen religiösen Eifer in den Dienst der Anwerbung für die Teilnahme an den Kreuzzügen. „Rache für Jesu Blut“ lautete die unmissverständliche Devise der Kreuzzugsrhetorik. Neben religiösen Motiven oder purer Abenteuerlust bot die Teilnahme am Kreuzzug unter der Flagge eines frommen Werkes die Möglichkeit, der eigenen oft tristen Situation zu entfliehen und sich dem Herrendienst oder einer Strafe für begangenes Unrecht zu entziehen.
Entlang der Route und am Zielort hinterließen die Kreuzfahrer meist Tod und Verwüstung. Der Hass gegen die „Ungläubigen“, womit zunächst die Moslems gemeint waren, richtete sich bald auch gegen die Juden. So kam es schon kurz nach dem Aufbruch ins Heilige Land – noch auf europäischem Boden – zu Massakern an der jüdischen Bevölkerung. Die Rheinebene (namentlich Trier, Speyer, Worms, Mainz und Köln) war von den furchtbaren Ausschreitungen gegenüber den Juden besonders betroffen. Den erbitterten Kämpfen fielen Tausende zum Opfer – auf beiden Seiten. Auf ihrem Weg Richtung Jerusalem setzten die Kreuzfahrer das Plündern und Morden fort. 1099 wurde Jerusalem schließlich eingenommen. Zahlreiche Juden wurden in der Stadt und ihrer Umgebung auf grausame Weise ermordet. Sie wurden zum Teil bei lebendigem Leib verbrannt. 1100 wurde das Königreich Jerusalem ausgerufen.
Fast 50 Jahre später rief Papst Eugen III. zum 2. Kreuzzug (1147–1149) auf. Ziel war die Rückeroberung der Grafschaft Edessa – eine der vier Herrschaftsgebiete, die aus dem Ersten Kreuzzug hervorgegangen waren. Der Heereszug wurde von Ludwig VII. von Frankreich und dem römisch-deutschen König Konrad III. angeführt. Das kriegerische Unternehmen endete allerdings mit einem Misserfolg und schweren Verlusten. Konflikte in den eigenen Reihen und zunehmende Sittenlosigkeit prägten das Bild der Kreuzzüge. Brutale Überfälle und Raubzüge pervertierten die christlichen Ideale. Viele der Zurückkehrenden waren im Glauben zerrüttet, nicht wenige brachten die Lepra mit nach Hause.
Nachdem die Stadt Jerusalem 1187 von Sultan Saladin rückerobert worden war, rief Papst Gregor VIII. die Königreiche des Abendlandes in einer Bulle zum 3. Kreuzzug (1189–1192) auf. Die Kreuzfahrerheere wurden von einflussreichen Persönlichkeiten wie Kaiser Friedrich Barbarossa, König Philipp II. von Frankreich und König Richard Löwenherz aus England angeführt. Das an und für sich gescheiterte Kreuzzug-Unternehmen endete mit einem Friedensvertrag zwischen Richard Löwenherz und Saladin. Dies führte zu einer gestärkten Position der Christen im Heiligen Land (z. B. Gewährung eines freien Zugangs zu den heiligen Stätten) und zu einer sichereren Existenz der Kreuzfahrerstaaten.
Trotz weiterer Initiativen in den darauffolgenden Jahren, Kreuzfahrer für die „Heiligen Kriege“ zu motivieren, kam die Kreuzzugsbewegung gegen Ende des 12. Jahrhunderts nicht mehr richtig in Schwung. Mit der Eroberung der letzten christlichen Kreuzfahrerfestung im Heiligen Land (1291 Fall der Hafenstadt Akkon) durch ägyptische Truppen war die Zeit der fast 200 Jahre dauernden Kreuzzüge endgültig gescheitert und damit beendet.
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