In diesem Buch finden Sie viele Beispiele, in denen die vielfältigen Möglichkeiten eines Missbrauchs aufgezeigt werden. Ich möchte damit auf die Gefahren hinweisen, die uns allen nach dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs bald drohen könnten.
Österreich und letztlich die ganze Welt stehen vor einer der Kernfragen unserer Existenz: Soll die sogenannte „aktive Sterbehilfe“ erlaubt sein oder nicht.
Noch eine persönliche Anmerkung: Seit Jahrzehnten beschäftige ich mich mit dem Thema Tod. Meine Vorträge und Veröffentlichungen seit den 70er Jahren zum Thema Sterbehilfe und Fristenlösung fanden auch in der vorliegenden Publikation ihren Niederschlag. Das Risiko, dass sich viele Argumente für die Abtreibung leicht auch auf alte Menschen übertragen lassen, wurde von mir in der Wochenzeitung „Die Furche“ vom 6. August 1992 unter dem Titel: „Eine Fristenlösung für Alte?“ abgehandelt. Ein Ergebnis der Beschäftigung mit der Thematik des Todes war auch das Werk: „Endtag – Wenn jeder weiß, wann er stirbt“, ein Szenario zum Thema Tod, erschienen im Tyrolia Verlag 2012. In dem Werk „Schmerzengeld für Trauer“, erschienen 2016 im Verlag Österreich, werden 162 Gerichtsurteile für Angehörige von Unfallopfern und Schwerverletzten für Rechtsanwälte, Richter und Versicherungen analysiert.
Innsbruck, im September 2021
Dr. Ivo W. Greiter
Rechtsanwalt in Innsbruck
Anmerkung: Im Sinne einer besseren Lesbarkeit gelten männliche Bezeichnungen in gleicher Weise für Frauen, wie weibliche Bezeichnungen in gleicher Weise für Männer gelten.
Kapitel 1
DAS URTEIL DES VERFASSUNGSGERICHTSHOFS
Strafdrohung der Hilfe beim Selbstmord aufgehoben
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hob am 11. Dezember 2020 die Strafbarkeit der Hilfe beim Selbstmord auf.
Nun wird es in Österreich also bald möglich sein, sich mit Hilfe eines Dritten (nicht durch einen Dritten) selbst zu töten. Dieser Schritt stellt einen Paradigmenwechsel in Österreich dar. Zuvor wurde heftig darum gestritten, ob die Beihilfe zum Selbstmord unter Strafe gestellt bleiben solle oder nicht. Hitzige Debatten wurden geführt, viele Für und Wider ins Treffen geführt, die Bevölkerung schien gespalten.
Schließlich musste der Verfassungsgerichtshof eine Entscheidung treffen. In seinem Erkenntnis hob er die bisherige Bestimmung zur Mithilfe beim Tod eines Sterbewilligen im Text des § 78 des österreichischen Strafgesetzes („wer ihm am Selbstmord Hilfe leistet, ist … zu bestrafen“) als verfassungswidrig auf.
Bis zu diesem Erkenntnis des VfGH lauteten die Bestimmungen des Strafgesetzbuches wie folgt:
„Mitwirkung am Selbstmord
§ 78. Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“
Die Wortfolge „oder ihm dazu Hilfe leistet“ wurde demnach aufgehoben.
Der Gesetzgeber hat nun bis 31. Dezember 2021 Zeit, Gesetze zu erlassen, die die Voraussetzungen für die straffreie Hilfe genau formulieren.
Die Verfassungsrichter haben es sich nicht leicht gemacht, hat doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits seit Jahren das Recht auf Beendigung des eigenen Lebens als Menschenrecht anerkannt:
Der EGMR hat abermals [2011] in einem Streit um Beihilfe zum Suizid entschieden, dass ein Staat nicht zu Selbstmord-Beihilfe verpflichtet ist. Die Straßburger Richter wiesen dabei die Klage eines Schweizers ab, der wegen einer psychischen Erkrankung seinem Leben ein Ende setzen wollte … Die Ärzte hätten sich jedoch geweigert, ihm das dafür notwendige Mittel P. zu verschreiben. Auch die Behörden und schließlich das Schweizer Bundesgericht wiesen seine Klage zurück. Daraufhin legte er Beschwerde beim EGMR ein … Der EGMR entschied, dass ein Mensch frei über die Art und den Zeitpunkt seines Todes selbst entscheiden könne. Allerdings gebe es keine ‚positive Verpflichtung‘ eines Staates, eine tödliche Medikamentendosis zur Verfügung zu stellen … Das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Recht auf Leben bedeute für die Staaten auch die Pflicht, Regelungen dafür zu treffen, dass die Entscheidung, das Leben zu beenden, wirklich dem freien Willen des Betroffenen entspreche. 1
Doch was ist eigentlich „Beihilfe zum Selbstmord“ im Sinne des Urteils des Verfassungsgerichtshofes? Ein konkretes Beispiel soll dies veranschaulichen: Ein Dritter durfte jetzt und früher nicht selbst Hand anlegen, um eine tödliche Spritze zu verabreichen . Er darf künftig aber eine tödliche Spritze vorbereiten . Die Spritze muss sich der Sterbewillige aber selber geben, die Tötung muss er selbst vollziehen. Der Dritte darf auch eine tödliche Tablette besorgen. Aber die Tablette einnehmen muss der Sterbewillige selbst.
Im Rahmen der Sterbehilfe gibt es vier unterschiedliche Ausgangsfälle:
a. Aktive Sterbehilfe: Das ist die absichtliche Herbeiführung oder Beschleunigung des Todes durch den Begleiter. Beispiel: Der Begleiter verabreicht dem Sterbewilligen eine tödliche Spritze. Also der Begleiter tötet. Das bleibt nach wie vor strafbar. Daran ändert auch das Urteil des Verfassungsgerichtshofs nichts.
b. Sterbehilfe als Beihilfe zum Selbstmord: Der Begleiter leistet Hilfe zur Selbsttötung. Beispiel: Bereitstellung des tödlichen Medikaments in einem Glas Wasser. Der Sterbewillige trinkt selbst und bewusst das tödliche Wasser. Ausschließlich solche Fälle wurden durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs ab 1. Jänner 2022 straffrei gestellt.
c. Indirekte Sterbehilfe: Der Arzt oder der Begleiter verabreicht schmerzlindernde Mittel unter Inkaufnahme der Lebensverkürzung. Beispiel: Verabreichung von Morphium zur Schmerzlinderung oder Schmerzunterdrückung. Das Leben kann dadurch auch verkürzt werden.
d. Passive Sterbehilfe: Diese geschieht durch Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen. Beispiel: Verzicht auf künstliche Ernährung, Verzicht auf künstliche Beatmung, Verzicht auf einen Herzschrittmacher. Wenn der Sterbewillige diesen Verzicht will, sind sowohl der Arzt als auch der Begleiter des Sterbewilligen daran gebunden. Diese Wünsche werden oft durch eine Patientenverfügung des Sterbewilligen nachgewiesen und sind unbedingt zu erfüllen.
Das Erkenntnis des VfGH bezieht sich nur auf die Beihilfe zum Selbstmord (Punkt b). Alle anderen Punkte (a, c und d) bleiben davon unberührt.
Ausschließlich die Strafe für die Hilfeleistung beim Selbstmord wurde beseitigt. Eine Verleitung zum Selbstmord im Sinne des § 78 des Strafgesetzbuches bleibt jedoch weiterhin strafbar. Denn die Entscheidung, sich selbst zu töten, genießt nur dann Grundrechtsschutz, wenn diese Entscheidung auf einer freien und unbeeinflussten Entscheidung fußt. Diese Voraussetzung ist bei einer Verleitung zum Selbstmord nicht gegeben. Ebenso bleibt § 77 StGB („Tötung auf Verlangen“) von der Entscheidung des VfGH unbeeinflusst und damit weiterhin strafbar. In seinem Erkenntnis (den gesamten Text der Entscheidung finden Sie im Anhang des Buches) geht der österreichische Verfassungsgerichtshof unter den Ziffern II und III ausführlich darauf ein, warum die Tatbestände „Verleitung zum Selbstmord“ und der „Tötung auf Verlangen“ weiter strafbar bleiben sollen.
Eine Klarstellung: In diesem Buch bedeuten die Worte Selbstmord, Suizid und Selbsttötung alle dasselbe. Auch die Bezeichnungen Sterbehilfe, assistierter Selbstmord, assistierter Suizid und assistierte Selbsttötung bedeuten dasselbe. Und auch Beihilfe, Mithilfe und Mitwirkung bedeuten dasselbe.
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