Weiter begeistert sich Aristoteles für mehrere günstige Eigenschaften der Vernunft (Aristoteles 1986, 296f.): Zum Betrachten, Erkennen und Nachdenken braucht man nur sich selbst – und keine weiteren Gegenstände oder Umstände, welche unsere Hobbys oft so teuer machen. Und, noch ein Argument, mit der Muße ist eigentlich nur die Tätigkeit der Vernunft vereinbar. Das Theoretisieren, das Nachdenken, die Betrachtung von Weisheiten, es stört die Muße nicht, ist sogar förderlich für diese – anders als Krieg zu führen, den Staat zu lenken, anders als Streben nach Ehre und Macht. Letztere Tätigkeiten schließen die Muße aus. Ein letzter Vorteil der Vernunft: Man kann sie völlig ermüdungsfrei ausüben, das Denken geht von selbst immer weiter. Zugegeben, die Vernunft hat einige prinzipielle Vorteile, doch ist sie deshalb gleichbedeutend mit Glückseligkeit? Zwar können wir nachvollziehen, wie Aristoteles dies ungefähr meint, aber wenn wir nicht ohnehin schon seiner Meinung waren, wird uns diese Ableitung aus der Definition des Menschen als vernünftiges Lebewesen, dass nämlich die Eudaimonia in der Vernunft liegt, nicht ohne weiteres überzeugen. Doch es gibt noch einen anderen Weg, uns und unsere Schüler:innen von den Vorzügen der Vernunft zu überzeugen.
Schritt drei: Eudaimonia ist Leben gemäß der Vernunft – gemäß der Unabhängigkeitskompetenz. Vernunft bedeutet frei zu werden von dem, was normalerweise unser Leben bestimmt. Ruhm und Ehre, Vergnügungen und Zeitvertreib, Anerkennung und Bewunderung und vieles mehr: In unserem Alltag jagen wir vielen Zielen hinterher und sind Spielball unserer Bedürfnisse. Immer haben wir Angst, zu kurz zu kommen und schauen ängstlich auf die anderen. Aristoteles möchte uns zeigen, worauf es wirklich ankommt. Und dies ist nichts Übliches, also gerade nicht Ruhm, Ansehen usw. Alle normalen Lebensziele werden eingeklammert und sind nicht mehr wichtig. Es geht um eine Art Verwesentlichung des Lebens, die vor allem in einer großen Souveränität und Freiheit gegenüber unseren mächtigen Bedürfnissen besteht. So müssen wir uns das freie, vernunftgeleitete Leben vorstellen, Aristoteles’ Ideal.
Vernunft ist nicht normal. Noch einmal in aller Deutlichkeit: Indem die üblichen und alltäglichen Zwecke unseres Lebens eingeklammert werden, wird jenes, worauf es für Aristoteles in unserem Leben eigentlich ankommt, gerade jenseits von dem gesucht, was für uns zunächst normal ist. Man kann also sagen, Aristoteles verabschiede Normalität – und bestimme stattdessen das richtige Leben anders: Wir sollen uns eine neue Normalität schaffen und diese ist das Leben, das sich von der Vernunft leiten lässt.
Vernunft bedeutet Unabhängigkeitskompetenz. Waren die Vorteile des theoretischen, des betrachtenden Lebens bisher vielleicht nur für Menschen überzeugend, welche selbst in diese Richtung veranlagt sind, kommt mit der Frage der Lebensform eine so grundsätzliche Ebene ins Spiel, dass Aristoteles’ Argumente immer überzeugender werden:
Die Mehrzahl der Leute und die rohesten wählen die Lust. Darum schätzen sie auch das Leben des Genusses. […] Die große Menge erweist sich als völlig sklavenartig, da sie das Leben des Viehs vorzieht […] Die gebildeten und energischen Menschen wählen die Ehre. Denn dies kann man als das Ziel des politischen Lebens bezeichnen. Aber es scheint doch oberflächlicher zu sein als das, was wir suchen. [Denn man scheint] die Ehre zu suchen, um sich selbst zu überzeugen, daß man gut sei. […] Die dritte Lebensform ist die betrachtende [θεωρητικός, die theoretische]. (Aristoteles 1986, 59f.)
Sein Leben dem Genuss zu widmen, das bedeutet für Aristoteles, zu leben wie das Vieh, bzw. sich freiwillig zum Sklaven der eigenen Leidenschaft und Begierde zu machen. Die Mutigen und Energischen, so Aristoteles, wählen ein anderes Leben, nämlich ein solches, das ihnen Ruhm und Ehre einbringt, wir würden vielleicht sagen: viel Anerkennung und höchstes soziales Prestige. Doch Aristoteles ist überzeugt: Dies kann noch nicht das letzte Wort sein, noch nicht die gesuchte höchste Lebensform. Denn beim Streben nach Ruhm und Ehre sind wir nicht wirklich frei, vielmehr verhalten wir uns so, dass wir möglichst viel Erfolg haben und eine möglichst große Anerkennung bekommen. Mitunter verhalten wir uns wie außengesteuert, ja wie ferngelenkt. Denn wir sind abhängig von der Anerkennung durch die anderen. Erst die durch Vernunft geprägte Lebensform bringt uns, so Aristoteles, die eigentliche innere Freiheit. Es ist normal, von seinen Leidenschaften und vom Wunsch nach Anerkennung und Bewunderung beherrscht zu werden. Doch Aristoteles plädiert dafür, neu zu definieren, was normal heißen sollte. Vernunft ist die möglichst große Freiheit und Unabhängigkeit von jenen Bedürfnissen, deren Spielball wir üblicherweise sind. Vernunft ist eine neue, befreite Normalität.
Aristoteles als Kollege an Ihrer Schule. Übertragen wir dies auf die Schule, dann lautete Aristoteles’ Empfehlung: Sie sollen die Unabhängigkeitskompetenz Ihrer Schüler:innen stärken. Diese sollen lernen, frei zu werden von der Jagd nach dem Vergnügen, auch von der Sucht nach Anerkennung und Erfolg. Und Sie als Lehrkräfte sollen ihnen diese Freuden der Unabhängigkeit nahebringen. Ein Beispiel, das Sie alle kennen: Wie schaffe ich es, meinen ‚inneren Schweinehund‘ zu überwinden und angestrengt zu trainieren oder endlich eine neue Sprache zu lernen oder etwas anzugehen, das ich schon lang angehen will? Indem ich mich dazu entschließe und es einfach mache . Dies zu erleben heißt, sozusagen auf elementarer Ebene zu erleben, dass ich mich durch das, was ich frei entscheide, gegen alle anderen Antriebe selbst bestimmen kann. Diese Erfahrung einer Unabhängigkeitskompetenz kennen Ihre Schüler:innen. Und dies gilt auch auf komplexerer Ebene. Falls ich nach langer Überlegung zu dem Schluss komme, meine Ernährung umzustellen oder meinen Lebensstil zu ändern, dann ist es möglich, dies auch wirklich zu tun. Und auf wieder anderer Ebene kann ich versuchen, die Dinge zu verstehen und zu erklären, wie sie wirklich sind, und durch vernünftiges Nachdenken über vernünftige Argumente selbst zu urteilen – wodurch wir wieder auf das Ideal des Selbstdenkens stoßen, siehe Kapitel 1 – nicht verzerrt durch Ideologien, die mir eine falsche Sicherheit geben. All das sind Erfahrungen der Vernunft als Unabhängigkeitskompetenz .
In der Nikomachischen Ethik führt Aristoteles vor, wie wir zum höchsten Ziel menschlicher Existenz ( Eudaimonia , Glückseligkeit) nur gelangen, wenn wir die Vernunft in uns ganz stark werden lassen. Das Ideal ist ein selbstständiges und freies, durch Vernunft gesteuertes Leben.
2.2 Epikur: Das richtige Leben beginnt, wenn wir innerlich unabhängig werden
Epikur war kein Epikureer. Epikur (341–270) ist heute bekannt für eine Meinung, die er selbst so nie vertreten hat, nämlich dass wir ein ausschweifendes Genussleben führen sollen. Auf Englisch heißt Genussmensch epicurean . Tatsächlich fragte Epikur eher danach, welche innere Haltung wir brauchen und wie wir unser Leben führen sollen, wenn wir zufrieden und frei von unnötiger Sorge leben möchten. Verfolgen wir ernsthaft dieses Ziel, so Epikur, dann sollten wir gerade nicht unseren Begierden folgen und unsere Genüsse immer noch steigern, sondern, im Gegenteil, wir sollen uns unabhängig machen von unseren Begierden und Wünschen. Dass dies dazu führen wird, dass uns die Genüsse ganz neu zugänglich werden, das vertieft unser Leben: Wenn wir sehr durstig sind, schmeckt Wasser besser als das teuerste Getränk schmeckt, wenn wir gar keinen Durst haben. Wie aber können wir loskommen von unseren Begierden, Wünschen und Leidenschaften? Indem wir in uns die Vernunft stark machen und uns selbst durch Vernunft führen.
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