Abb. 1.1: Musikgeragogische Expertise an der Schnittstelle für Konzertangebote
Mehrwert für alle Beteiligte 
Bei der Realisierung von Konzertformaten für Menschen mit Demenz können nicht nur die von Demenz Betroffenen kulturelle Teilhabe erfahren und von dem Konzertformat profitieren, sondern auch die Angehörigen und ggf. Pflegenden bzw. Betreuenden (vgl. Nebauer & de Groote 2012). Der Mehrwert eines kulturellen Angebots für Menschen mit Demenz – auch für die Familien – wurde beispielsweise eindrucksvoll in der ZDF-Dokumentation »Unvergesslich« aus dem Jahr 2020 deutlich, bei der ein wissenschaftliches Chorprojekt für Menschen mit Demenz durch ein Fernsehteam begleitet wurde 7 . Mit Blick auf den Konzertbereich wurde mehrfach bestätigt, dass musikalische Veranstaltungen für Menschen mit Demenz (und deren Angehörige) auch für die Musikschaffenden und selbst Musikinstitutionen einen großen Mehrwert bieten (vgl. von Leliwa 2019, S. 189 ff.).
positive Auswirkungen 
Neben all den positiven Auswirkungen, die musikalische Angebote im Alter auf das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Teilnehmenden haben, sind auch Effekte zur Verbesserung des subjektiven Gesundheitszustands, zur Stärkung psychologischer Widerstandskraft und zur Ablenken von Beschwerden und Krankheiten beschrieben worden (vgl. Hartogh 2018). Auch die gemeinschaftlichen Dimensionen des gemeinsamen Singens und Musizierens gehen mit vielen sozialen Benefits einher (vgl. Fung & Lehmberg 2016). In Zusammenstellungen zu den positiven Aspekten musikgeragogischer Angebote werden beispielsweise die folgenden Oberbegriffe genannt: (musikalische) Zufriedenheit, »emotional wellbeing«, Reduktion von Angst, Sorgen und Stress, Hilfe bei der Überwindung schwieriger Lebensphasen, Stärkung der eigenen Identität, spirituelles Erleben, Gemeinschaftserlebnisse, Zusammengehörigkeitsgefühl, Gruppengefühl, positive Auswirkungen auf Haltung, Atmung, Stimme, Motorik und Kognition u. v. a. m. (vgl. Koch 2019). Eine Übersicht an Studien, die positive Effekte des aktiven Singens und Musizierens im Alter beschreiben, ist bei Fung und Lehmberg (2016), Hartogh (2005) oder Koch (2017) zu finden. Trotz all dieser Vorzüge ist es wichtig, Musik nicht für außermusikalische therapeutische oder physiologische Zwecke zu funktionalisieren, sondern auch den unersetzlichen Eigenwert zu erkennen (vgl. Wickel & Hartogh 2018).
Rahmenbedingungen und Interdisziplinarität 
Abschließend soll noch einmal bekräftigt werden, dass die musikgeragogische Perspektive bei der Initiierung, Umsetzung und Etablierung von Konzertformaten für Menschen mit Demenz (und deren Angehörige) wichtig ist. Sowohl Konzerthäuser bzw. Musikschaffende als auch Alteneinrichtungen sind nicht immer mit den Rahmenbedingungen und internen Abläufen vertraut. Interdisziplinär ausgebildete Musikgeragoginnen und -geragogen können an dieser Schnittstelle tätig sein, eigene musikalische oder konzeptionelle Ideen einbringen und zwischen allen Beteiligten (Betroffene, Einrichtungen, Konzertinstitutionen, Angehörigen etc.) fachkundig vermittelnd tätig werden, um für alle Seiten gewinnbringende Konzertangebote zu ermöglichen.
1.4 Ein Land voller Musik: Das klassische Konzertleben und seine Institutionen in Deutschland
Elisabeth von Leliwa
Dieser Artikel entsteht während des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020: Konzerthäuser, Theater, Musikschulen und Hochschulen sind geschlossen, die Symphoniekonzerte der großen Orchester eingestellt – selbst Proben oder virtuelle Hauskonzerte mit mehr als zwei Musikerinnen bzw. Musikern untersagt, die Existenzen zahlloser freischaffender Musikerinnen und Musiker gefährdet.
Säulen der klassischen Konzertszene 
Diese Ausnahmesituation macht jedoch erst recht deutlich, welche hohe Präsenz und welchen großen Stellenwert die klassische Musik und ihre Institutionen in Deutschland einnehmen. Musikerinnen und Musiker sind dabei in drei Bereichen aktiv, die man als Säulen der klassischen Konzertszene in diesem Land bezeichnen kann:
• Klangkörper in öffentlicher Trägerschaft wie z. B. städtische, Landes- und Staats-Orchester, Opernchöre oder die Orchester, Chöre und Bigbands der Rundfunkanstalten.
• Eine ungemein vielfältige freie Szene von der Avantgarde-Komponistin über das Barock-Ensemble bis zur privaten Operetten-Kompagnie.
• Bildungsinstitutionen wie Musikschulen und Musikhochschulen, die auch als Veranstalter von Konzerten mit Schülerinnen, Schülern und Studierenden äußerst aktiv sind.
Orte des Konzertlebens 
Die musikalischen Spielstätten wie Opernhäuser, Konzertsäle, Kirchen, alternative Kulturorte zählen mit ihrem festangestelltem künstlerischen Personal, das für die inhaltliche Planung der musikalischen Angebote verantwortlich ist, ebenfalls zur einzigartigen musikalischen Infrastruktur in Deutschland. Auch zahlreiche große Festivals bieten Künstlerinnen und Künstlern eine Plattform, die Musik auch in entlegenste Winkel des ländlichen Raums zu bringen.
Die folgende Darstellung soll einen Einblick in die unterschiedlichen Finanzierungs-, Planungs- und Arbeitsstrukturen dieses Musiklebens geben. Möglichkeiten und Bedingungen werden aufgezeigt, unter denen Konzertangebote für Menschen mit Demenz entwickelt werden. Ziel dieses Beitrages ist es, Interessierten aus dem Sozialbereich das Verständnis für die Befindlichkeiten des Musikbetriebs und von Musikschaffenden zu vermitteln und Wege zu erfolgreichen Initiativen aufzuzeigen.
Die deutsche Orchesterlandschaft: Kulturorchester und freie Szene
Geschichte und Kontexte zu Orchestern 
Das nächste Orchester ist in vielen Regionen Deutschlands oft nur wenige Kilometer entfernt. Im April 2020 zählte die Deutsche Orchestervereinigung 129 Konzert-, Opern-, Rundfunk- und Kammerorchester in öffentlicher Trägerschaft: 81 an Stadt- und Staatstheatern, 37 selbstständige Konzertorchester und schließlich elf Rundfunk- und Rundfunksinfonieorchester und vier Bigbands. Diese weltweit höchste Dichte an Orchestern hat historisch-politische Gründe: Das älteste, ohne Unterbrechung arbeitende Berufsorchester ist das Orchester des Staatstheaters Kassel, das 1502 erstmals als Hofkapelle in einem amtlichen Dokument namentlich genannt wurde. Die Staatskapellen in Dresden, Weimar und Schwerin entstanden im 16. Jahrhundert – und der Flickenteppich der Fürsten- und Herzogtümer des Deutschen Reiches sorgte dafür, dass andere Höfe in Konkurrenz folgten und sich ebenfalls mit Hofmusiken und Hoftheatern schmückten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts waren es die selbstbewussten Bürger in reichen Städten wie Aachen (1852) oder Düsseldorf (1864), die Orchester und Theater gründeten. Diese Vielfalt hat sich – trotz etlicher Auflösungen und Fusionen seit den 1990er Jahren – bis heute erhalten und wurde 2014 von der Deutschen UNESCO-Kommission in die nationale Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen, für 2020 ist die Aufnahme in die internationale Liste des Weltkulturerbes beantragt (vgl. Mertens 2019).
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