Wie die Orchesterlandschaft beeindruckt auch der deutsche Bildungssektor mit seinen Zahlen: An 28 Standorten in Deutschland gibt es staatliche Musikhochschulen, darüber hinaus 51 weitere berufsbildende Institute (z. B. Konservatorien und kirchenmusikalische Einrichtungen) und fast 40 weitere Studiengänge im musikpädagogischen Bereich. Fast unüberschaubar ist die Fülle an Musikschulen. Ihr Ausbildungsspektrum reicht vom Anfängerunterricht bis zur Studienvorbereitung, von der musikalischen Früherziehung bis zum Unterricht für Senioren. Viele der jungen Musikschülerinnen und -schüler nehmen an den deutschlandweiten Wettbewerben Jugend musiziert teil, die auf Landes- und Bundesebene ein sehr hohes Niveau aufweisen. 931 Musikschulen in öffentlicher Trägerschaft zählte das Deutsche Musikinformationszentrum im Jahr 2020, dazu kommen mindestens 600 private Musikschulen: ein riesiges Reservoir an Musik 11 .
Möglichkeiten für Demenzkonzerte von Bildungseinrichtungen 
Alle musikalischen Bildungseinrichtungen organisieren regelmäßig Konzerte mit ihren Studierenden, Schülerinnen und Schülern – aber auch mit den Dozierenden und gelegentlich sogar mit Gastmusikerinnen und -musikern. Die Aktivitäten reichen vom Klassenkonzert über Ensembleprojekte bis hin zu Aufführungen von Orchestern und Bigbands; die stilistische Spannbreite reicht gerade in den Musikschulen oft über den klassischen Bereich hinaus bis zum Pop und Jazz (der auch an einigen Musikhochschulen als Studienfach angeboten wird). Damit bestehen vielfältige Möglichkeiten, Konzerte für Menschen mit Demenz anzubieten: sei es ein speziell für die Zielgruppe organisiertes Event, die Voraufführung oder Wiederholung eines bereits geplanten Konzertes – oder die Öffnung von Musikveranstaltungen im Sinne der Inklusion.
Publikum und Chancen für Musikerinnen und Musiker 
Kooperationen zwischen Musik(hoch)schulen und sozialen Einrichtungen verlangen – in noch höherem Maße als bei den Profi-Ensembles – einen offenen Dialog. Reguläre Konzerte mit den Nachwuchsmusikerinnen und -musikern müssen eine pädagogische Agenda verfolgen – was gelegentlich zu Programmen mit Überlänge und ohne thematischen »roten Faden« führen kann. Bei Veranstaltungen in Musikschulen findet sich oft ein buntes, familiäres Publikum in sehr lockerer Atmosphäre zusammen, was Menschen mit Demenz bei einem inklusiven Event überfordern könnte. Daher muss der Rahmen eines solchen Konzerts bewusst gesetzt und gestaltet werden, um die Bedürfnisse der Zielgruppe zu berücksichtigen. Unter dieser Voraussetzung werden auch die Studierenden und Musikschülerinnen und -schüler von der Erfahrung profitieren, indem sie …
• Spielpraxis und Spielroutine erwerben und vertiefen,
• neue musikalische Arbeitsfelder kennenlernen,
• ihre Kommunikationsfähigkeiten mit dem Publikum verbessern,
• neues Repertoire in einem nicht auf Wettbewerb ausgerichteten Umfeld erproben,
• die Wirkung von Musik hautnah erleben.
Begegnung der Generationen 
Ein besonderer Bonus bei Konzerten mit jungen Musikerinnen und Musikern liegt in der Begegnung der Generationen. Die Freude, Energie und Hingabe, die sie – ganz unabhängig von ihrem Ausbildungsstand – in eine Alteneinrichtung bringen, wird dort in besonderer Weise von Zuhörenden wahrgenommen und wertgeschätzt.
Professionelle Musikerrinnen und Musiker bringen darüber hinaus eine andere, besondere Qualität in Konzerte für Menschen mit Demenz ein: die Aura des Künstlerischen.
professionelle Musikerinnen und Musiker sind flexibel und situativ 
Die über Jahre erarbeitete Bandbreite des Repertoires ermöglicht es ihnen, musikalische Projekte inhaltlich ganz auf ein Publikum oder einen Anlass hin maßzuschneidern. Die Souveränität in der Beherrschung eines Instruments oder der Stimme verleiht ihnen eine ungeheure Flexibilität auf der Bühne: Ihre musikalische Interpretation kann sich in Lautstärke, Tempo und Energie den Möglichkeiten der Zuhörenden, der Atmosphäre einer Situation anpassen und auf Unerwartetes reagieren. In Konzerten für Menschen mit Demenz ermöglicht dies ein subtiles Wechselspiel mit einem Publikum, das nach wissenschaftlichen Erkenntnissen eine besondere Sensibilität für Musik zeigt.
Kommunikation mit dem Publikum 
Die Unmittelbarkeit, mit der Menschen mit Demenz auf Musik reagieren, kann umgekehrt gerade den Profi-Musikerinnen und -musikern etwas schenken, das im ritualisierten, auf Perfektion ausgerichteten Konzert- und Opernbetrieb oftmals verloren geht: die Empfindung für die emotionale Ausdrucksmacht von Musik. Kammermusikalische Projekte oder Konzerte in sozialen Einrichtungen ermöglichen darüber hinaus die direkte, verbale Kommunikation von Musizierenden und Zuhörenden – was im »normalen« Konzertbetrieb nur sehr eingeschränkt (z. B. bei Signierstunden nach einem Auftritt) stattfindet.
Demenzkonzerte als Bereicherung für Anbietende und Aufgaben für Kultureinrichtungen 
Viele Musikerinnen und Musiker beschreiben ihre Erfahrungen mit Menschen mit Demenz daher nicht nur als persönliche und menschliche Bereicherung, sondern auch als Erweiterung ihrer musikalischen und kommunikativen Kompetenzen, zum Beispiel im Hinblick auf Improvisationsfähigkeit (vgl. Alheit, Page & Smilde 2015). Viele Intendanzen von Orchestern und Opernhäusern sehen diese Projekte als einen Baustein, um die Reichweite eines Orchesters zu erhöhen oder dessen gesellschaftliche Relevanz innerhalb einer Stadt oder einer Region zu vergrößern – was sich in Budgetdiskussionen mit öffentlichen Trägern positiv auswirken kann. Manche sprechen durchaus auch von der Verpflichtung, langjährigen Konzertbesucherinnen und -besuchern, die über Jahrzehnte ein Orchester oder ein Opernhaus durch ihre Abonnements mitfinanziert haben, etwas zurückzugeben, wenn sich deren Lebenssituation verändert hat (vgl. Nebauer 2013).
Konzertprojekte werden auf diese Weise zu einer wechselseitigen Bereicherung für Musikinstitutionen, Musikerinnen bzw. Musiker und Menschen mit Demenz: eine Begegnung, von der alle Beteiligten profitieren.
1Das Buch »Anderland« wurde von der Glücksmomente Stiftung e. V. herausgegeben und ist ein lesbarer und kreativer »Reiseführer« in die Welt von Menschen mit Demenz (Schützendorf & Datum 2019).
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