„Roddy!“ Torben lacht so laut, dass er sich aufs Bett setzen muss.
„Und ich“, Samir öffnet seinen kleinen Rucksack und holt einen großen schwarzen Panther aus Plüsch heraus, „Radschan.“ Der Panther hat den ganzen Rucksack ausgefüllt. Hat er etwa sonst nichts mitgebracht?
Endlich kann jeder seine eigene Tasche in Besitz nehmen. Ich beschließe, das letzte freie Bett in diesem Zimmer zu beziehen, und hole meine Bettwäsche raus. Wenn alle noch ein bisschen Kindergarten im Kopf haben, dann kann es hier ja vielleicht doch ganz schön werden.
„Herzlich willkommen in der Jugendherberge“, sagt der bärtige Mann mit lauter Stimme, als wir alle im Speisesaal zum Mittagessen zusammengekommen sind. Ich sitze mit den Jungen aus meinem Zimmer an einem Tisch. Lasse sitzt mit Mama am selben Tisch wie Herr Jung in der Nähe der Tür. Der Bärtige steht stramm wie ein Soldat, trägt aber einen selbst gestrickten Wollpullover und steckt mit seinen nackten Füßen in ausgetretenen Sandalen. „Mein Name ist Peter Strubbel, ich bin hier der Hausvater. Das bedeutet, wenn es Probleme gibt, wenn etwas kaputt geht – mir sagen!“ Er zeigt mit beiden Daumen auf seine Brust. „Für euch gilt: keine Drogen, keinen Alkohol, keine mutwillige Zerstörung, keine Umweltverschmutzung. Verstanden?“
Ein zustimmendes Gebrummel geht durch die Menge. Das scheint Herrn Strubbel nicht zu reichen. Noch lauter fragt er nach: „Habt ihr das verstanden?“
„Ja!“, brüllen jetzt alle, als müssten wir einem Soldaten-Hauptmann antworten.
„Ja, Herr Strubbel!“, verbessert er uns streng und fragt gleich noch mal eine Spur lauter: „Habt ihr das verstanden, Schulklasse 5a?“
„Ja, Herr Strubbel!“, brüllen wir im Chor. Einige von uns sind automatisch aufgestanden und haben die Haltung eines Soldaten eingenommen.
„Für den Müll gibt es Mülleimer“, fährt er fort, „zum Sitzen gibt es Bänke und Stühle, zum Rennen den Sportplatz. Keiner wirft den Müll auf den Boden, keiner setzt sich auf die Tischtennisplatte, keiner rennt in den Fluren rum. Habt ihr das verstanden, Schulklasse 5a?“
„Ja, Herr Strubbel!“, brüllt die Klasse, die die Spielregeln des Antwortens inzwischen verstanden hat.
Der Hausvater zeigt auf die beiden Jugendlichen, die hinter einer Theke an der Essensausgabe stehen. Es sind dieselben, die mich vorhin vor dem Ameisenknochen gewarnt haben: „Das sind Arne und Bastian, meine knallharten Assistenten. Die machen hier ihr FSJ und passen auf, dass ihr keinen Blödsinn macht. Habt ihr das verstanden, Schulklasse 5a?“
„Ja, Herr Strubbel!“, brüllen wir wie aus einem Mund.
„So, dann lasst es euch mal schmecken! Heute gibt es Reis mit Hühnerfrikassee! Haut rein!“
Hauptmann Strubbel kehrt auf dem Absatz um und verlässt den Speisesaal mit großen Schritten. Auf meiner Liste mit Gründen, warum ich Klassenfahrten hasse, sind soeben noch drei Punkte dazugekommen. Erstens: Ich habe keine Lust, mich von Wollpullover-und-Bart-Trägern herumkommandieren zu lassen. Zweitens: Ich habe keine Ahnung, was FSJ bedeutet, aber auf die beiden Jugendlichen bezogen heißt es bestimmt nichts Gutes. Sicher so was wie „Freche-Sprüche-Jungen“. Drittens: Das Wort „Hühnerfrikassee“ aus dem Mund dieses Hauptmanns klingt wie zu Matsch geschredderte Hühner, die man anschließend mit ihrem eigenen Hühnerdreck verquirlt hat. Und das Ganze mit Reis. Fehlt nur noch die gelbe Jugendherbergs-Marmelade. Hurra, hurra.
Noch am selben Nachmittag machen wir als ganze Klasse eine Wanderung durch den Wald. Herr Jung nennt das Spaziergang. Aber alles, was länger als eine halbe Stunde am Stück mit laufen zu tun hat, ist für mich eine Wanderung. Es gibt hier viele Waldwege. Immer wieder kommen Kreuzungen. Manche Wege sind so breit, dass ein Auto gut darauf fahren könnte. Andere so schmal, unauffällig und mit hohem Gras bewachsen, dass man sie fast übersehen könnte. Herr Jung scheint sich hier auszukennen. Er biegt zielsicher an den verschiedenen Kreuzungen ab, zeigt auf Bäume, nennt uns die Namen von Blumen. Hin und wieder entdeckt er sogar wunderschöne Schmetterlinge oder kleine Vögel, die erst dann wegfliegen, wenn man ihnen wirklich sehr nahe kommt.
Alle zwei Meter bleibt Lasse stehen: „Boah, Mama! Schau mal, was für ein schöner Stein! Boah, Mama, und schau mal hier, das ist ja noch ein schöner Stein!“ Bald hat er so viele schöne Steine gesammelt, dass er den unteren Rand seines Pullis zu einem Beutel nach oben ziehen muss, um seine Steinsammlung darin tragen zu können.
„Was hast du mit den ganzen Steinen vor?“, fragt Mama.
„Sammeln!“
„Nee, Lasse. Die bleiben hier im Wald. Ich will keinen von denen in unserem Zimmer haben.“
„Na gut.“
Herr Jung ist vor einem großen gefällten Baum stehen geblieben. Der Baum ist so dick, dass zwei Erwachsene sich nicht an beiden Händen anfassen könnten, wenn sie ihn umschlingen würden. Könnten sie sowieso nicht, denn er ist ja gefällt und liegt direkt neben seinem Baumstumpf. Es riecht nach frischem Holz. „Seht ihr die vielen schmalen Ringe hier im Baumstamm? Das sind die Jahresringe. Daran kann man zählen, wie alt der Baum ist. Der hier ist also über 200 Jahre alt.“
„Das sieht ja toll aus!“, schwärmt Lasse laut. „Sollen wir hier eine Pause machen?“ Sarah dreht sich direkt zu ihm um und macht ein „Ist-der-putzig“-Gesicht.
„Weißt du, was ich mache, Mama? Damit wir immer wieder zu diesem schönen Ort kommen, lege ich eine Kieselstein-Spur. Wenn wir dann wieder hierherkommen wollen, müssen wir nur der Spur folgen!“
„Eine gute Idee, Lasse. Hauptsache, du bringst die Steine nicht mit ins Haus.“
Herr Jung zeigt auf eine Plastikflasche, die ganz in seiner Nähe auf dem Boden liegt: „Und was ist das? Ist das auch Natur?“
„Nein!“, ruft Lasse. „Das ist Umweltverschmutzung!“
Herr Jung schmunzelt: „Richtig, Lasse. Du kennst dich ja schon gut aus. Also: Bei so etwas Dummem machen wir nicht mit. Wer von euch Müll zu entsorgen hat, wartet, bis wir an einem Mülleimer vorbeikommen oder zurück bei der Jugendherberge sind. Müll im Wald – das ist wie mit Dreckschuhen auf dem Sofa im Wohnzimmer hopsen.“
„Au ja, cool“, jubelt Torben. „Das würde ich gerne mal machen!“
Herr Jung schaut ihn streng an und Torben jubelt nicht mehr.
„Ich habe eine Lupe dabei“, erklärt Lasse Sofie, als wir weitergehen. „Mit der kann ich alle Tiere beobachten.“ Er bleibt stehen, kniet sich hin und hält seine kleine Plastiklupe aus dem Agenten-Päckchen irgendwo auf den Boden. „Ich seh hier zwar keins, aber wenn hier eins wäre, dann würde ich es sehen. Komm, setz dich zu mir.“
„Dann wird meine Hose schmutzig“, knirscht Sofie.
„Na und? Die kann man waschen.“
„Ich mag aber nicht mit schmutzigen Hosen herumlaufen.“
Bea zeigt in die Luft: „Da, das ist schon das dritte Mal, dass ich denselben weißen Schmetterling sehe. Hätte ich doch ein Blatt und einen Stift mitgenommen, dann könnte ich jetzt eine Strichliste anfertigen.“
Raul geht hinter ihr: „Das ist bestimmt nicht immer derselbe Schmetterling, sondern der gleiche.“
Bea rollt mit den Augen. „Raul, du nervst mit deinen immer gleichen Sprüchen.“
„Wenn schon, dann sind es immer die gleichen Sprüche.“
Mats hat die Hände in die Seite gestemmt und geht leicht nach vorne gebeugt: „Wie lange gehen wir noch? Ich hab Seitenstechen! So lange musste ich zu Hause noch nie im Leben gehen! Das ist Kinderquälerei!“
„Finde ich auch“, klagt Hilko.
„Ich muss aufs Klo“, jammert Sondra.
„Ich auch“, fällt Hilko ein.
„Ich hab Durst“, beschwert sich Torben.
„Ich auch“, ruft Hilko.
„Wir sind gleich zurück bei der Jugendherberge“, beruhigt sie Herr Jung. „Dann bekommt jeder etwas zu trinken.“
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