Felix schüttelt den Kopf. „Ist doch dasselbe.“
Plötzlich steht Torben neben uns und bohrt in der Nase. „Ist ja lustig, ihr habt dieselbe Tasche wie ich. Aber ich kann meine immer aus allen herausfinden. In unserem letzten Urlaub hatte ich den ganzen Flug über die Tasche auf dem Schoß. Da hab ich die ganze Zeit an dem Trageriemen gekaut. Jetzt ist der viel heller als die Griffe der anderen. Seht ihr?“ Er zeigt auf seine Tasche, die irgendwo mitten unter den anderen steht. Nicht nur der Griff – die ganze Tasche sieht aus, als hätte sie jemand im Mund gehabt und stundenlang gekaut. Blass, verknautscht und ausgelutscht. Richtig ekelhaft. Die könnte ich niemals mit meiner verwechseln.
„Es ist nicht dieselbe Tasche“, belehrt Raul ihn, „sondern die gleiche. Die gleichen sich nämlich nur.“
„Nee, die gleichen sich nicht“, sagt Torben und schaut sich den Popel an, den er gerade aus der Nase gezogen hat. „Meine sieht ganz anders aus.“
„Das stimmt“, sagen Felix und ich gleichzeitig.
Frau Schuldlos presst ihre Hände so auf die dicken Backen ihres Sohnes Mats, dass sein Gesicht aussieht wie ein Hamster. „Mach’s gut, mein Kleiner“, sagt sie. Mats ist weder klein noch dünn. Frau Schuldlos auch nicht. Sie knetet die Wangen von Mats, als wollte sie daraus Kuchen backen. „Pass auf dich auf.“
„Mach ich“, kommt es aus dem zu einer kleinen Schnute zusammengequetschten Mündchen von Mats.
„Hast du genug Süßigkeiten dabei?“, forscht die Mutter weiter.
„Ja. Die ganze Tasche voll.“
„Prima. Dann lass es dir gut gehen.“ Sie presst noch mal seine Backen zusammen und schüttelt den Kopf ein paarmal hin und her. „Und pass auf dich auf.“
„Mach ich.“
Frau Heberlein zieht einen Staubfussel von Sofies Schulter: „Und ruf an, wenn ihr angekommen seid.“
„Ja, Mama.“
„Und mach dich nicht schmutzig.“
„Nein, Mama.“
„Und hör auf das, was Herr Jung euch sagt.“
„Ja, Mama.“
„Und mach keinen Ärger.“
„Nein, Mama.“
Frau Siegreich hat nasse Wangen vom Heulen. Sie küsst ihre Tochter auf die linke Wange. „Tschüß, mein Schatz.“
Deborah weint auch. „Du sollst noch nicht gehen.“
Frau Siegreich küsst Deborah auf die rechte Wange. „Nein, nein. Ich bleibe, bis ihr gefahren seid.“
„Gut.“
Frau Siegreich küsst Deborah wieder auf die linke Wange. „Gottes Segen.“
„Euch auch.“
Kuss rechts. „Ihr sollt leuchten als Lichter inmitten einer dunklen Welt.“
„Ich weiß.“
Kuss links. „Sei ein Segen für deine Mitmenschen.“
„Ja.“
Sofie steht neben Deborah: „Sitzt du im Bus neben mir?“
Deborah nickt. Ihre Mutter hört auf zu küssen. „Tschüß, mein Schatz.“
Deborah geht mit Sofie auf den Bus zu: „Du sollst noch nicht gehen.“
„Nein, nein. Ich bleibe, bis ihr gefahren seid.“
„Gut.“
Deborah steigt hinter Sofie ein. Die Mutter winkt. „Gottes Segen!“
„Euch auch!“, kommt Deborahs Stimme aus dem Bus. Dann ist sie nicht mehr zu sehen.
Frau Siegreich steht mit verheultem Gesicht inmitten der Koffer und Reisetaschen und sagt ihren letzten Spruch viel zu leise, als dass Deborah ihn hören könnte: „Ihr sollt leuchten als Lichter mitten in einer dunklen Welt!“
„Platz da!“, brummt der Busfahrer und stößt Frau Siegreich zur Seite. „Wie soll man denn hier ordentlich einräumen können?“
„Alle einsteigen!“, ruft Herr Jung.
Das Chaos und Geschrei wird noch größer.
Lasse steht vor mir: „Ben, sitzt du neben mir?“
„Ich wollte eigentlich neben Julian sitzen.“
Schon ist Mama dazugekommen und nimmt Lasse an die Hand: „Komm, Lasse, wir setzen uns ganz vorne hin.“
„Sollen wir nicht neben Ben sitzen?“
Mama stupst ihm mit dem Zeigefinger an die Nase: „Wir hatten doch gesagt, Ben stärkt die Klassengemeinschaft, du löst die Kriminalfälle.“
„Ach ja, richtig!“ Lasse tippt sich wie ein Soldat an die Stirn. Dann greift er an ein kleines Täschchen, das an seinem Gürtel steckt. „Hab ich dir eigentlich schon meine Agententasche gezeigt, Ben? Die hab ich mir gestern von meinem Taschengeld gekauft!“
„Nein. Was ist das?“
„Agenten-Grundausrüstung!“ Er zieht das schwarze Täschchen von seinem Gürtel ab. „Alles, was ein Geheimagent braucht. Hier, schau selbst nach!“ Er hält mir das Päckchen hin.
Ich öffne den Reißverschluss. Heraus purzeln eine kleine Plastik-Lupe, ein Stift, ein Blöckchen, ein Mini-Pinsel und eine Mini-Taschenlampe, der ich schon auf den ersten Blick ansehe, dass nach fünf Minuten leuchten die Batterie leer sein wird. Außerdem sind da noch Plastikhandschuhe, ein Döschen mit Kohlestaub und ein kleiner Plastikbeutel mit Reißverschluss-Leiste. Ich halte den leeren Plastikbeutel in die Luft. „Wofür braucht man das?“
„Um die Beweisstücke hineinzulegen. Das weißt du doch.“
„Ach ja.“ Ich grinse und gebe ihm das Päckchen zurück. „Du bist ja gut ausgerüstet, Agent Lasse.“
„Muss ich doch auch, wenn ich die Kriminalfälle lösen will!“
Plötzlich stehen Torben, Tobias, Christina und Sarah um uns herum.
„Boah, cool, was hast du da?“, fragt Torben.
„Eine Agenten-Spezialausrüstung. Kann ich dir gleich im Bus mal zeigen!“
Torben schaut mich an: „Dein Bruder ist echt cool.“
„So süß!“, sagt Sarah und beugt sich wie eine Erzieherin zu Lasse nach unten. „Zeigst du sie mir auch gleich mal?“
„Klar! Und ich kann euch erzählen, welche Kriminalfälle Ben und ich schon alle gelöst haben!“
Ich schaue ihn streng an: „Brems dich, Lasse!“
„Okay.“ Lasse schaut Sarah an und zwinkert mit einem Auge. „Ich erzähle nur ein bisschen. Denn eigentlich bin ich ja nicht dafür zuständig, die Klassengemeinschaft zu stärken. Aber wenn es dir langweilig ist, fällt mir bestimmt was Lustiges ein.“
Endlich steigen wir alle in den Bus ein. Die Fahrt geht los. Ich bin Mama sehr dankbar, dass sie mir meinen Erstklässler-Bruder ein bisschen vom Leib hält.
Die Jugendherberge „Bodenwaldblick“ liegt wirklich mitten im Wald. Rundherum befinden sich eine große Wiese, ein Fußballfeld, eine Art Sportplatz, ein Grillplatz, ein großes aufgemaltes Schachbrett, ein gepflasterter Hof. Aber sonst Wald, wohin man nur schaut.
Sobald der Bus angehalten und die Türen geöffnet hat, strömen alle Schüler raus, als hätte es innen einen Feueralarm gegeben. Einige springen sofort über den Hof, andere klettern auf die Bäume, die dem Bus am nächsten stehen. Torben rennt zu dem Schachbrett, greift sich eine der Figuren, die wie ein Pferd aussieht, und versucht sich mit lautem Cowboygeschrei darauf zu setzen. Schon kommt ein bärtiger Mann aus dem Haus und ermahnt ihn: „Nicht draufsetzen! Davon gehen die Figuren kaputt!“
Der Busfahrer öffnet die Klappe unten am Bus und die ersten beginnen, ihre Taschen herauszuziehen. „Das mache ich!“, brüllt der Busfahrer mit hochrotem Kopf und holt schnaufend und schwitzend eine Tasche nach der anderen aus dem Gepäckraum. Mindestens vier Taschen, die so aussehen wie meine, liegen unten drin. Aber wenn ich vorhin beim Einräumen richtig aufgepasst habe, dann weiß ich, welche davon meine Tasche ist. Ich darf sie einfach nicht aus den Augen lassen, dann kann ich gleich nach ihr greifen. Auch bei den Mädchen sehen einige Taschen ähnlich aus. Sarah und Mimi streiten sich gerade um eine der Taschen und ziehen sie gleichzeitig jeweils an einem der Tragegriffe auseinander. „Das ist meine!“, schreit die eine. „Nein, meine!“, plärrt die andere. Mama steht mit Lasse bei Herrn Jung und unterhält sich mit ihm. Mama grinst dabei und hält ihre Hand vor den Mund, als sollte niemand sehen und hören, was sie da redet. Beide lachen manchmal. Machen die sich über uns lustig?
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