„Ach, Ben.“ Mama geht in die Hocke und dreht den Schreibtischstuhl so, dass sie mein Gesicht sehen kann. „Warum sagst du das denn nicht?“ Sie macht ein sorgenvolles Gesicht. „Freust du dich denn nicht, wenn ihr mal ein paar Tage rauskommt und ein paar Abenteuer woanders erlebt?“
Richtig geraten, Mama. Ich schüttle den Kopf. Ich ziehe die Nase hoch.
„Aber warum denn nicht?“
Warum, warum? Ich weiß es doch selbst nicht! Wie soll man einer Mama erklären, warum man nicht weg will? Ist es so schlimm, wenn einer lieber zu Hause ist, wo er sich auskennt? Als ich den Mund öffne, um was zu sagen, merke ich, dass er voller Rotz und Schleim ist. Ich muss erst mal schlucken und räuspern. Dann versuche ich es: „Ich will einfach nicht. Ich kenn mich da nicht aus. Ich weiß nicht, was da kommt. Ich weiß nicht, ob es mir da gefällt. Ich hab Angst, dass die anderen die ganze Zeit fröhlich sind und ich immer nur nach Hause will. Ich will nicht mit den anderen in einem Zimmer schlafen. Beim letzten Mal wollte ich schlafen und die anderen haben noch ganz lange gequatscht. Dann war ich am nächsten Tag müde und schlecht gelaunt, aber niemand hat das bemerkt. Ich hatte Bauchschmerzen und wollte immer nur ins Bett. Aber wir haben immer irgendwas unternommen.“ Ich atme einmal tief ein und aus. Jetzt ist es raus. Der Hals ist wieder frei. Ich wische mir einen feuchten Streifen von der Wange.
„Aber du hast doch nachher erzählt, dass es schön war?“
„Ja, es war ja auch schön.“
Klar, dass Erwachsene das nicht kapieren. Es war schön, aber zwischendurch war es auch schwer. Beides. Das scheinen Erwachsene nicht zu kennen.
Mama streicht mir über den Arm. „Ach, du armer Kerl. Das wusste ich gar nicht.“ Sie schaut mich noch mal mit ihrem lieben Mama-Lächeln an. „Soll ich denn lieber wieder absagen?“
„Nein.“ Ich ziehe die Nase hoch und schüttle den Kopf. So langsam geht es mir wieder besser. „Die anderen freuen sich ja so. Und ich krieg es schon irgendwie hin. Es wird bestimmt schön.“ Ich schaue Mama an und versuche zu lächeln. „Und es stärkt ja auch die Klassengemeinschaft und wir erleben schöne Dinge.“
Mama lacht. „Genau.“ Dann zieht sie die Augenbrauen hoch. „Und was ist mit Lasse? Ist es denn in Ordnung, wenn er mitkommt?“
Ich seufze. „Geht ja wohl nicht anders. Aber ich fand auch doof, dass ihr mich nie gefragt habt, ob ich damit einverstanden bin. Mit Papa hast du gesprochen, mit Herrn Jung, mit Lasses Lehrerin – aber nicht mit mir.“
„Das stimmt. Da hast du recht. Das war ziemlich dumm von uns.“ Mama presst schuldbewusst ihre Lippen zusammen. „Ich hab gedacht, du freust dich richtig doll auf die Klassenfahrt. Darum wollte ich dir und der ganzen Klasse helfen. Aber ich hätte dich natürlich zuerst fragen müssen.“ Sie zieht wieder die Augenbrauen hoch. „Das tut mir leid.“
Das tut gut, wenn Erwachsene sich entschuldigen. Jetzt kann ich auch Mama wieder anschauen, ohne dass mir die Tränen kommen. „Aber wehe, Lasse schläft mit mir in einem Zimmer!“
Mama lacht wieder. „Nein, keine Angst. Der schläft natürlich bei mir im Zimmer. Und wenn ihr Großen was unter euch machen wollt, dann kann ich mit Lasse was spielen oder ein bisschen spazieren gehen.“
Meine Zimmertür donnert auf, Lasse stürzt herein und kommt bis direkt vor meinen Schreibtisch: „Nicht spazieren gehen, Mama! Wir wollen doch die Klassengemeinschaft stärken und schöne Dinge erleben! Nicht wahr, Ben?“
Am liebsten wäre ich ausgerastet, weil Lasse offensichtlich das ganze Gespräch an der Tür belauscht hat. Und jetzt sieht er auch noch mein verheultes Gesicht. Aber weil er mich so lieb anstrahlt, kann ich nicht schimpfen. Irgendwie ist er ja auch süß, der Kleine. Obwohl mir vorhin noch zum Heulen zumute war, muss ich jetzt lachen. „Lasse, es ist meine Klassengemeinschaft. Die musst du nicht stärken. Okay?“
Lasse grinst breit. „Okay, Boss. Wir teilen uns auf: Du stärkst die Klassengemeinschaft, und ich löse alle Kriminalfälle, die sich dort ergeben.“
„Klingt vernünftig, Agent Lasse.“ Endlich kann ich wieder befreit aufatmen. Na gut, dann kann die Klassenfahrt von mir aus jetzt kommen.
Mittwochmorgen, acht Uhr. 25 Schülerinnen und Schüler stehen mit 25 monstergroßen Koffern und Reisetaschen vor der Schule und schreien aufgeregt durcheinander. Ein Reisebus parkt am Straßenrand. Mehr als 25 Elternteile stehen zwischen den Koffern und Taschen und geben dem Busfahrer Anweisungen, der prustend und schwitzend eine Tasche nach der anderen in dem unteren Gepäckraum des Busses verstaut.
Meine neue, blaue Sporttasche halte ich noch in der Hand. Mama hat sie mir gestern gekauft, weil ich mich beschwert habe, dass das kleine Köfferchen aus der Grundschulzeit mit Olaf, dem Schneemann aus der „Eiskönigin“, drauf für einen Fünftklässler nicht mehr cool ist. Mein Kulturbeutel mit der Zahnbürste und so weiter hat aber noch einen „Bob der Baumeister“ aufgedruckt. „Den kann man noch nehmen“, hat Mama entschieden. Ich finde das auch nicht so schlimm. Wenn ich den Kulturbeutel so zum Waschraum trage, dass man den Aufdruck nicht sieht, werde ich auch nicht für ein Baby gehalten. Babyhaft ist eigentlich auch Roddy, der kleine Teddy, den ich immer noch in meinem Bett liegen habe. Den habe ich heimlich eingepackt und den muss ich heute Abend irgendwie unter mein Kopfkissen schmuggeln. Ist eigentlich peinlich, ich weiß. Passt nicht zu einem Fünftklässler. Aber ein Mann muss sich ja immer noch ein bisschen Kindheit bewahren, hab ich mal gehört. Und Roddy ist ein Geschenk von Oma Mechthild, den ich bekommen habe, kurz bevor sie gestorben ist. Das ist schon viele Jahre her, aber ohne Roddy kann ich nicht einschlafen.
Wie auch immer – in der Hand halte ich meine absolut moderne und neue Sporttasche. Die sieht richtig cool aus und die hat bestimmt sonst niemand.
„Hast du deine Reisetablette genommen?“, fragt Beas Mutter nun schon zum dritten Mal und überreicht ihrer Tochter eine Liste. „Hier hab ich dir aufgeschrieben, in welcher Reihenfolge du welche Medikamente einnehmen musst. Dieselbe Liste hab ich auch Herrn Jung geben. Und eine gebe ich gleich noch Frau Baumann. Hörst du mir zu, Beatrix?“
Bea hört nicht zu. Sie trägt ein Klemmbrett mit einer eigenen Liste in der Hand und geht von einem Schüler zum anderen. „Sondra, hast du an die Federballschläger gedacht?“
„Ach so. Nö.“
„Und du, Jonathan, hast du die UNO-Karten dabei?“
„Sollte ich das?“ Jonathan kratzt sich am Kopf. „Ich hab eine Tüte Chips mitgebracht.“
„Das hab ich auch“, fällt Sondra ein.
„Ich auch“, kommt es von Hilko.
„Du, Hilko, wolltest laut Liste ‚Mensch ärger dich nicht!‘ mitbringen.“
„Hab ich nicht.“
Bea rauft sich die Haare. „Hat hier denn überhaupt jemand etwas von den Sachen mitgenommen, die auf der Liste stehen?“
Beas Mutter tippt ihr auf die Schulter: „Hast du deine Reisetabletten genommen?“
Bea stöhnt auf: „Nein. Das stand nicht auf meiner Liste.“
Felix stößt mir in die Seite: „Schau mal, Ben, ich hab dieselbe Reisetasche wie du!“
Er zeigt mir seine neue blaue Sporttasche. Genauso eine trage ich auch in der Hand. Hoffentlich verwechseln wir die nicht.
Raul steht neben Felix und tippt ihn an: „Das heißt nicht dieselbe, sondern die gleiche.“
Felix schaut ihn erstaunt an. „Wieso? Es ist doch dieselbe Tasche.“
„Nein, die gleiche. Die gleichen sich ja nur. Wäre es dieselbe, dann wäre es genau dieselbe.“ Dann hält er seine eigene blaue Sporttasche in die Höhe und zeigt sie uns. „Ich hab übrigens auch die gleiche.“
„Cool“, sagt Felix, „dieselbe wie meine.“
„Nein, nicht dieselbe. Die gleiche.“
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