Weitere Erscheinungsformen
Zu Beginn dieses Kapitels haben wir angemerkt, dass die Depression viele Gesichter hat. Nicht alle Erscheinungsformen der Depression lassen sich eindeutig in Kategorien einordnen. Nehmen wir an, Sie leiden unter Teilnahmslosigkeit und depressiven Stimmungen und kommen nur schwer aus dem Bett. Es ist dabei nicht wirklich wichtig, ob Ihre Symptome die Kriterien in einem umfangreichen Handbuch der Diagnostik erfüllen oder nicht. Was für Sie zählt, ist, dass Sie sich nicht wohlfühlen und hoffen, dass es Ihnen bald besser geht. In vielen Fällen kann Ihnen eine Therapeutin oder ein Therapeut einen Ausweg zeigen, aber auch in diesem Buch werden Sie einige recht hilfreiche Methoden dazu finden.
Mütter, die ihre Babys töten
Es kommt vor, dass Frauen, die unter sehr schweren Wochenbettdepressionen leiden, eine Psychose entwickeln. Bei Psychosen haben die Betroffenen keinen Bezug mehr zur Realität. Es können Halluzinationen (Dinge hören oder sehen, die gar nicht existieren) und Wahnvorstellungen (zum Beispiel der Glaube, dass Außerirdische Ihre Gedanken kontrollieren) vorkommen. Eine postnatale Psychose ist eine Psychose, die kurz nach einer Entbindung auftritt. Die psychotischen Wahnvorstellungen konzentrieren sich dann auf das Kind. An einer solchen Psychose leidende Frauen glauben, das Kind sei besessen oder wäre im Himmel besser aufgehoben als hier auf der Erde. Das Risiko für eine postnatale Psychose ist größer, wenn schon vor der Geburt eine Psychose bestand. Zwar verletzen auch einige wenige Mütter mit Wochenbettdepression ihre Babys, doch die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass sie sich selbst verletzen.
Im Juni 2001 ertränkte eine Frau in Texas ihre fünf Kinder in der Badewanne. Sie hatte nach der Geburt ihres vierten Kindes eine postnatale Psychose bekommen. Zwischen der Geburt des vierten und des fünften Kindes hatte sie zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie wurde medikamentös behandelt. Doch gegen den Rat ihres Arztes hörte sie auf, ihre Medikamente einzunehmen. Die Frau wurde daraufhin des Mordes für schuldig befunden, mit dem Argument, dass es nicht zu dieser Tragödie gekommen wäre, wenn sie die Behandlung nicht abgebrochen hätte. Nach der Berufung wurde ihr Urteil aufgehoben und die Frau aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen. Sie lebt jetzt unter ärztlicher Aufsicht.
Kann eine Depression überhaupt normal sein?
Wenn Sie jemanden verlieren, den Sie sehr geliebt haben, dann ist das schmerzlich und Sie fühlen sich traurig. Sie schlafen vielleicht schlecht und ziehen sich zurück. Es scheint Ihnen unvorstellbar, auszugehen und einen schönen Tag zu verbringen. Diese Gefühle können Wochen oder einige Monate anhalten. Sind das Anzeichen einer Depression? Ja und nein.
Obwohl Trauer ähnliche Auswirkungen hat wie eine Depression, kann man beides nicht gleichsetzen. Eine Depression geht im Gegensatz zur Trauer immer auch mit Schuldgefühlen und einem verminderten Selbstwertgefühl einher. In der ersten Zeit kommt die Trauer in Wellen und die Erinnerung an den oder die Verstorbene verursacht heftige Schmerzen. In den meisten Fällen lässt die Trauer mit der Zeit nach. Später können solche Erinnerungen an frühere Partner, Freunde oder Familienmitglieder sogar Freude auslösen. Depressionen bleiben dagegen unverändert bestehen.
Unter Fachleuten gibt es unterschiedliche Ansichten dazu, wie man mit Trauer am besten umgehen sollte. Wir sehen Trauer als natürlichen Heilungsprozess an, dem man seinen normalen Verlauf erlauben sollte. Jedoch nur unter der Voraussetzung, dass sie nicht von einer Depression begleitet wird. (Lesen Sie in Kapitel 15, wie Sie Verlust und Trauer überstehen können.) Ob man seine Trauer behandeln lassen sollte, ist eine sehr individuelle Entscheidung. Jemand, der trauert, muss sich auf jeden Fall bewusst sein, dass sein Gemütszustand von einer Depression überlagert werden kann. Wenn Sie schon zu lange unter Trauer leiden oder Symptome einer Depression hinzukommen, sollten Sie sich beraten lassen, ob eine Behandlung sinnvoll ist.
Ein Kind zu verlieren, ist wohl der schwerste Verlust, den ein Mensch erleiden kann. Die Trauer, den der Tod eines Kindes auslöst, ist stärker, komplizierter und anhaltender als der durch irgendeinen anderen Verlust. Der seelische Schmerz und die Einsamkeit scheinen unerträglich. Eltern stellen den Sinn des Lebens infrage. Die Betroffenen leiden oft unter Konzentrationsstörungen, Energiemangel und fehlender Motivation. Trauer kann sich über Jahrzehnte hinziehen. Schon wenn eine fremde Person fragt: »Wie alt sind Ihre Kinder?«, kann das einen Ansturm von Trauergefühlen auslösen, dem man nicht ausweichen kann. Außenstehende können zwar mitfühlen, doch sie können nicht nachempfinden, wie stark und anhaltend der Schmerz ist. Betroffene Eltern sollten sich überlegen, Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe aufzunehmen. Sie erfahren über die Website des Bundesverbandes Verwaiste Eltern in Deutschland e. V. ( www.veid.de
), wo Sie in Ihrer Nähe Hilfe finden.
Die Ursachen der Depression
Über die Ursachen der Depression gibt es viele Theorien. Einige Fachleute sind der Meinung, dass Depressionen durch ein Ungleichgewicht im Gehirnstoffwechsel hervorgerufen würden. Befürworter dieser Theorie glauben, dass dieses Ungleichgewicht eine genetische Ursache habe. Andere Fachleute sind der Ansicht, dass die Ursachen einer Depression in der Kindheit der Betroffenen liegen. Wieder andere sind der Meinung, dass negatives Denken zu Depressionen führe. Und es gibt die Theorie, dass Armut und/oder kulturelle Einflüsse Depressionen verursachen. Einige Wissenschaftler bringen erlernte Verhaltensmuster mit der Entstehung einer Depression in Verbindung. Andere Experten glauben, dass Beziehungsprobleme die Hauptursache der Depression sind.
Alle haben recht. Obwohl man für jede dieser Theorien Beweise finden kann, weiß niemand genau, wie diese Faktoren wirken, welcher der wichtigste ist und welcher andere Faktoren beeinflusst.
Trotz der Tatsache, dass noch nicht genau geklärt ist, wie die verschiedenen Faktoren, die zu einer Depression führen, zusammenspielen, können Sie auf Ärzte, Psychologinnen oder Psychiater treffen, die glauben, »den« wahren Grund für eine Depression zu kennen. Wenn Sie solch einer Therapeutin oder einem Therapeuten begegnen, sollten Sie die Glaubwürdigkeit infrage stellen. Erfahrene Fachleute wissen, dass eine bestimmte Ursache wohl niemals festgestellt werden kann, sondern dass es sich um ein sogenanntes multifaktorielles Geschehen handelt, bei dem viele Ursachen zusammenspielen.
Doch man weiß schon einiges darüber, wie sich eine Depression entwickelt. Es gibt viele Untersuchungsergebnisse, die zeigen, dass das Lernen, das Denken, biologische und genetische Faktoren, Kindheitserlebnisse und die Umwelt bei der Entstehung und auch der Therapie von Depressionen eine wichtige Rolle spielen. All diese Faktoren beeinflussen einander wechselseitig. Selbst unsere Gene werden durch unsere Umwelt und unser Verhalten in ihrer Wirkungsweise verändert, sind also nicht von unserer Zeugung an festgeschrieben. Immer mehr Studienergebnisse sprechen dafür, dass Medikamente die körperlichen Auswirkungen der Depression wie Appetit- und Energieverlust beeinflussen können. Antidepressiva bessern auch das negative, pessimistische Denken, das bei den meisten Formen der Depression vorkommt. Einige namhafte Forscher streiten allerdings zunehmend darüber, ob die Verbesserungen durch Antidepressiva nicht fast vollständig auf den Placebo-Effekt zurückzuführen sind. Placebos sind im Grunde inaktive Tabletten, die trotzdem die Erwartung oder Hoffnung vermitteln, dass eine Besserung eintreten wird.
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