Nachdem ich schon längere Zeit nichts mehr von ihnen gehört habe, beschließe ich ganz spontan, kurz „Grüß Gott“ zu sagen. Daraus wird natürlich eine gemütliche Kaffeestunde mit selbst gemachtem Zwetschgenkuchen und Sahne. Es ist sehr schön, doch irgendwann muss ich aufbrechen, will ich doch heute noch bis nach Ulm, meinem ersten Etappenziel, kommen.
Herr Bayer holt aus seinen Urlaubsutensilien für meinen Rucksack noch eine Jakobsmuschel, die er aus Portugal mitgebracht hat. Danke! Diese Muschel werde ich sicher nach Santiago de Compostela tragen. Sie wird mich auf meinem Weg immer als Jakobspilger ausweisen und gleichzeitig immer dankbar an den heutigen Start meiner Pilgerreise erinnern.
Mein Weg führt mich auf einen schmalen Wanderpfad im schattigen Wald in den Ortsteil Thalfingen. Hier steht das Rathaus unserer Gemeinde und ich habe hier eine kleine Eigentumswohnung, in welcher ich ein Jahr gewohnt habe, bevor ich nach Blaubeuren gezogen bin. In der Kirche „Christus unser Leben“ hat meine Tochter im Mai dieses Jahres geheiratet. Es war ein schönes Fest. Ich will sie anrufen. Auf eine Tasse Kaffee hätte ich gerade noch Zeit. Aber leider ist sie nicht zu Hause.
Entlang der Donau, gemütlich auf einem wunderbaren Fuß- und Radweg direkt am Fluss geht es zügig voran. Oberhalb des Donaukraftwerkes liegen noch einige der „Ulmer Schachteln“ vor Anker. Auf solchen Holzschiffen sind seinerzeit Waren donauabwärts verfrachtet worden. Auch die Donauschwaben sind von Ulm aus auf solchen Schiffen ohne Kiel nach Ungarn, Rumänien etc. ausgesiedelt.
Ein wunderbares, frühherbstliches Farbenpanorama begleitet mich bis zur Ulmer Friedrichsau. Diese ist Erholungs-, Fest- und Freizeitpark in einem. In den weitläufigen Parkanlagen mit Seen und Bachläufen gibt es wunderbare Anpflanzungen und das dazugehörige große Aquarium mit Tropenhaus und Außengehege erfreut Jung und Alt. Und am Schwörmontag, dem Ulmer Nationalfeiertag, wird gegrillt, getanzt und gefeiert.
Friedrichsau
Heute ist es sehr ruhig. Ich gehe bis zum großen Ausee. Dort kaufe ich mir an einem Kiosk eine Semmel mit Leberkäs, setze mich gemütlich auf eine Bank und genieße den Augenblick.
Bis zum Donaustadion führt mich mein Weg, bevor ich meinen ersten Pilgertag abschließe. Viele Dinge gehen mir durch den Kopf. Der Tag war interessant, erholsam und geistreich. Aber auch, in seiner angenehmsten Art, anstrengend.
Eine altbewährte chinesische Weisheit sagt:
Auch der längste Weg beginnt
immer mit dem ersten Schritt!
Die ersten Schritte sind gemacht. Es waren die wichtigsten, denn ohne Beginn gibt es keine Fortsetzung. Und darauf freue ich mich schon voller Ungeduld.
2. Pilgertag, Sonntag, 09.10.2011
Ulm–Grimmelfingen: 9 km, Gesamt: 17 km
… beim Aufwachen schaue ich aus dem Fenster. Regen, wie vom Wetterdienst gemeldet. Trotzdem habe ich die Hoffnung, dass es im Laufe des Vormittags wenigstens trocken wird. Für die nun angebrochene kalte Jahreszeit nehme ich extra einen leichten Pullover mit in den Rucksack.
So starte ich am Donaustadion in Ulm an der Stelle, an welcher ich vor einigen Tagen in die Straßenbahn eingestiegen bin. Meine Karin hat mich heute hierhergebracht. Mein Auto haben wir in Grimmelfingen nahe der St. Jakobuskirche für die Heimfahrt bereitgestellt. Es ist wie erhofft trocken. Sogar ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen finden ihren Weg durch die Wolkendecke.
Ich gehe in Richtung Stadtmitte zur St. Georgskirche. Hier in der Kirche, in welcher immer die Schulgottesdienste meiner Realschulzeit stattgefunden haben, fühle ich mich immer sehr wohl. Die Wandmalereien wirken wie eine Tapete und geben dem Raum eine weiche, wohltuende Atmosphäre.
Jakobus in der St.Georgskirche
Ich komme gerade recht zum Gottesdienst und beschließe spontan, daran teilzunehmen. Es werden die neuen Ministranten in die Gruppe aufgenommen. Sie bekommen während des Gottesdienstes feierlich ein Kreuz an der Halskette ausgehändigt.
An den Wänden sind alle Apostel in großen Gemälden abgebildet. So begegne ich meinem Pilgerpatron heute zum ersten Mal bewusst in einer Kirche. Vollständigkeitshalber möchte ich jedoch erwähnen, dass ich bisher noch nie darauf geachtet habe, wo welcher Apostel in einer Kirche mit welchen Gegenständen oder Sinneszeichen abgebildet ist. Ab heute wird sich dies grundlegend ändern, wie die Zukunft zeigen wird.
Als ich nach dem Gottesdienst wieder ins Freie trete, traue ich meinen Augen nicht. Die Sonne scheint, und der Himmel strahlt herrlich blau herab. Was doch ein bisschen Beten alles bewirken kann (schmunzel).
Mein Weg führt mich nun zum Ulmer Münster. Es hat mit 161 m den höchsten Kirchturm der Welt. Ein Floh- und Grümpelmarkt lockt heute viele Menschen an, und ich erfreue mich am Würstchenstand an einer Grillwurst im Semmel. Vorbei am wunderbar bemalten Rathaus, der modernen Bibliothek, welche als Glaspyramide die umliegenden Fassaden widerspiegelt, geht es in die herrliche Altstadt zum schiefen Haus an der Blau.
Die Blau entspringt in meiner jetzt neuen Heimat Blaubeuren. Einen Steinwurf von hier entfernt mündet sie in die Donau. Böse Zungen behaupten, die schöne blaue Donau, welche in Wien so besungen wird, erhält hier die nötige Färbung. Es kann natürlich auch andere Gründe haben.
Vorbei am Saumarkt geht es ans Donauufer und dann zwischen Bahngleisen und Duftgarten zur Martin-Luther-Kirche. Hier wird gerade ein Konzert für heute Abend vorbereitet. Die Kirche ist innen mit Holz verkleidet. Es sieht sehr gemütlich aus. Der Pfarrer ist auch Jakobspilger und erzählt mir, dass er es bereits bis Genf geschafft hat. Er wünscht mir alles Gute und „Buen Camino“. Das erste Mal auf meinem Pilgerweg, dass ich diesen Gruß höre.
Die Römerstraße geht es nun 2,5 km hoch zum Kuhberg. So wie Rom auf Hügeln erbaut ist, so liegt Ulm auf vielen Bergen verteilt. Eselsberg, Kuhberg, Michelsberg und Safranberg. Und jeder Berg hat seine eigenen Reize und Geschichten.
Ich gehe am Fort Oberer Kuhberg vorbei. Ursprünglich als Außenfort der Bundesfestung Ulm gebaut, wurden in den Jahren 1933–1935 politische Gegner des NS-Regimes hier inhaftiert. Heute dient es als Freilichtmuseum der früheren Bundesfestung und beherbergt eine KZ-Gedenkstätte.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ein Besuch dieser Gedenkstätte von mir bisweilen noch nicht erfolgt ist.
Hinaus geht es aus der Stadt entlang dem südlichen Rand der Schwäbischen Alb. Bald erblicke ich im Tal bereits Grimmelfingen, mein heutiges Tagesziel mit der St. Jakobskirche. Sehr klein, ohne große Ausschmückung, liegt sie inmitten des Ortes. Aber sie strahlt Geborgenheit und Ruhe aus.
An Grimmelfingen habe ich auch eine ganz persönliche Erinnerung. Lange Jahre machte ich Tanzmusik. Das bedeutet, dass wir sehr oft in den Nächten bei jeder Witterung mit unseren Instrumenten auf dem Heimweg waren. Den einzigen schweren Unfall, den wir dabei hatten, war nach einer Veranstaltung in Grimmelfingen. Dass ich nicht im Unfallwagen gesessen bin, verdanke ich der Tatsache, dass meine Eltern ausgerechnet an diesem Abend anwesend waren und warteten, bis wir unsere gesamte Musikanlage abgebaut und verstaut hatten. Danach nahmen Sie mich gleich mit nach Hause. Wie durch ein Wunder blieb es jedoch überwiegend bei Sachschaden. An diese Nacht muss ich heute traurig, aber auch dankbar wegen des glimpflichen Ausgangs denken.
In der Kirche bewundere ich den Erntedankschmuck, stemple nach einem Dankesgebet mein Credencial mit dem Pilgerstempel und gehe zu meinem Auto.
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