Der Liberalismus ist fraglos so facettenreich, dass es den Liberalismus womöglich gar nicht gibt – auch nicht als bedrohte Spezies. Die Attribute, mit denen er versehen wird, sprechen für sich selbst und für seine Spannweite: Vom Links liberalismus, mit dem sich gerade im Journalismus viele schmücken, bis hin zum Neo liberalismus, der – wie uns Jan Schnellenbach in diesem Band nahebringt – für zwei gegensätzliche Konzepte steht: für Ökonomen ist es ein wissenschaftlicher Ansatz der Steuerung von Wirtschaft mit möglichst geringer staatlicher Intervention, während der Neoliberalismus umgangssprachlich zum Schimpfwort verkommen ist, mit dem man von jeder beliebigen Position aus nahezu jeden diskreditieren kann, den man ein Stückchen weiter rechts von sich selbst verortet.
Dazwischen tummeln sich – nicht minder unscharf – Wirtschafts liberale, Markt liberale und Gesellschafts liberale. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auf individuelle Freiheit pochen. Aber sie haben doch ein sehr unterschiedliches Verständnis davon, welche individuellen Freiheiten konkret gemeint sind, und welche Rolle dem Staat bei der Verwirklichung und Begrenzung dieser individuellen Freiheitsrechte zukommen soll. Während der Arbeit an diesem Band traten nahezu tagtäglich kleine und größere Zerreißproben auf, die zeigen, wie wichtig es ist, über das Verhältnis von Leitmedien zu Liberalismus und Liberalität weiterhin nachzudenken – so schillernd der Liberalismus-Begriff dabei bleiben mag.
Die Reihe Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses trägt – augenzwinkernd – ihr Ziel im Namen. Sie soll Herausforderungen und Dysfunktionen des öffentlichen Diskurses diagnostizieren, Auswege aufzeigen und dabei vor allem selbst zur Debatte beitragen. Der vorliegende Band ist so gemeint, als ein Debattenbeitrag. Er bringt Analysen von Sozialwissenschaftlern und aus der journalistischen und politischen Praxis zusammen, die sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit den Zerreißproben zwischen Journalismus, Liberalismus und Liberalität befassen. Alle Beiträge sind kurz gehalten, sie sollen anregen, einen Denkimpuls setzen, vielleicht auch mal Stein des Anstoßes sein und ein wenig aufregen. Alle thematisierten Zerreißproben sind Zerreißproben, weil sie politisch strittig sind. Das macht sie spannend und instruktiv, wenn das Verhältnis von Leitmedien, Liberalismus und Liberalität vertieft verstanden werden soll. Die Herausgeber setzen sich somit über alle wohlmeinenden Warnungen hinweg, wenngleich durchaus verbunden mit einem Dank an die Bedenkenträger – und sie danken ihrerseits allen Autorinnen und Autoren sowie dem Verlag, dass sie sich ›trotz alledem‹ für unser Projekt engagiert haben.
Der Band wurde bis auf diesen Absatz der Einleitung in den Wochen vor der Bundestagswahl 2021 verfasst, ist aber jetzt – unmittelbar danach, bei Drucklegung – aktueller denn je: Nicht nur, weil die FDP in den Koalitionsverhandlungen ihre alte Rolle als Zünglein an der Waage und Matchmaker wiedergewinnen konnte. Das wohl überraschendste Wahlergebnis bestand vielmehr darin, dass sich die Liberalen unter den Erstwählern den höchsten Stimmenanteil aller Parteien sichern konnten – was gegen den Tenor der Leitmedien eher einen liberalen als grünen Aufwind verheißt. Der Wunsch nach mehr persönlichen Freiheiten während der Corona-Krise soll dabei eine maßgebliche Rolle gespielt haben. War dies angesichts der Berichterstattung zur Krise wie auch zur FDP zu erwarten? Dass die Zustimmung zu den Grünen dagegen von in Umfragespitzen fast 30 Prozent auf am Ende dann doch nur 15 wie ein Soufflé in sich zusammenfiel, wirft zumindest die Frage auf, welchen Beitrag eine phasenweise euphorische journalistische Begleitmusik zum Höhenflug leistete.
Der Band gliedert sich in drei Abschnitte. Der erste, »Liberalismusschwund und Liberalitätsverluste« erörtert aktuelle Herausforderungen für den liberalen öffentlichen und medialen Diskurs – von links, rechts, oben und unten. Hier werden sie herausgearbeitet, die Zerreißproben.
Der zweite Abschnitt, »Liberaler Journalismus, liberale Journalisten?« fokussiert darauf aufbauend auf die Medien, den Journalismus und die Journalisten. Er beleuchtet die (begrenzten) verfügbaren Erkenntnisse zu politischen Haltungen im Berufsfeld und lädt profilierte Journalistinnen und Journalisten dazu ein, Zerreißproben aus der Innensicht zu reflektieren.
Der dritte Abschnitt schließlich, »Parteien, Liberalität und Medien«, wendet sich der Politik zu, den Parteien und auch ihrem Verhältnis zum Journalismus. Dabei nimmt die FDP relativ viel Raum ein, reklamiert sie doch traditionell den Liberalismus für sich. Doch auch die Bedeutung von Liberalismus und Liberalität für Union, Grüne, Sozialdemokraten und Linke werden kritisch diskutiert – mal von innen, mal von außen, mal von erfahrenen etablierten Politikern und Beobachtern, mal vom Nachwuchs.
Erster Abschnitt:
Liberalismusschwund und Liberalitätsverluste
Die Publizistin und Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann eröffnet die Debatte mit einem sorgenvollen Blick auf den Liberalismus unter Druck . Sie beschreibt, wie eine zunehmend hitzige Rechts-Links-Konfrontation die politische Mitte verunsichert. Dies gilt nicht zuletzt für lautstarke Kulturkämpfe, in denen liberale Grundwerte kaum noch in Erscheinung zu treten scheinen. Dabei droht, so ihr Argument, die liberale Erfolgsgeschichte der westlichen Zivilisation aus dem Auge verloren zu gehen.
Thomas Petersen, Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach, kann daran anknüpfen und, basierend auf einem reichhaltigen demoskopischen Datenschatz, zeigen, wie spannungsvoll – und oft auch konfus – das Verhältnis der Deutschen zum Liberalismus ist. Viele schmücken sich gerne mit dem Prädikat ›liberal‹, doch was darunter verstanden wird, variiert zum Teil dramatisch. Einen eher schweren Stand hat dabei der Wirtschafts- oder gar ›Neoliberalismus‹.
Was verbirgt sich hinter diesem polarisierenden Schlagwort eigentlich? Jan Schnellenbach, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Brandenburgischen Technischen Universität, versucht sich an einer Differenzierung: Jenseits des häufig floskelhaften Schimpfworts kann demnach eine neoliberale ökonomische Denktradition unterschieden werden von einer politischen Praxis, die mal mehr, mal weniger dieser Denktradition verhaftet ist, aber ihre Bezeichnung teilt. Schnellenbach zeigt sich optimistisch: ein moderner Neoliberalismus muss kein Schimpfwort bleiben.
Josef Joffe, Mit-Herausgeber der Zeit , bringt gleich zwei der im Band behandelten Zerreißproben auf den Punkt. Der Wirtschaftsliberalismus wird demnach durch eine allzu große Begeisterung für einen allumsorgenden Wohlfahrtsstaat unter Druck gesetzt, der Gesellschaftsliberalismus dagegen durch eine illiberale ›woke‹ Identitätspolitik. Der Journalismus könnte dem Liberalismus durchaus eine Stütze sein – wenn er sich nicht in Echokammern verläuft.
Ergänzend dazu appellieren Claus Leggewie, Inhaber der Ludwig Börne-Professur der Justus-Liebig-Universität Gießen, und der Publizist und langjährige Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament Daniel Cohn-Bendit in ihrem Beitrag an die Bedeutung von Offenheit und Liberalität als Haltung. Gerade neue soziale Bewegungen können ihre Ziele oft nur erreichen, wenn sie für Bündnispartner empfänglich sind. Allzu schnell verschlossene Türen dürften dagegen einem zügigen gesellschaftlichen Fortschritt eher abträglich sein.
Mit Liberalität und Offenheit befasst sich auch die Ökonomin Margit Osterloh – insbesondere im Kontext der Covid-19-Pandemie. Im Schatten des Corona-Virus habe sich eine zweite Gefährdung aufgebaut: das Autoritätsvirus – eine eigenwillige Lust auf Bevormundung und autoritäres ›Durchregieren‹. Während wir bei der Durchimpfung gegen Covid-19 inzwischen rasante Fortschritte verzeichnen dürfen, stehe zu befürchten, dass Liberalitätsverluste als Corona-Kollateralschäden uns in westlichen Demokratien, in der Politik, der Wissenschaft und den Medien, noch länger begleiten werden.
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