Als die Herausgeber dieses Bandes mit dem Gedanken zu spielen begannen, ein Werk zum Verhältnis von Journalismus und Liberalismus zu veröffentlichten, raunte ihnen schnell die Warnung entgegen: das dürfe aber nicht in einer Neoliberalismus-Apologetik enden, das zerstöre jede Akzeptanz! Liberalismus ja, Neoliberalismus nein – eine Zerreißprobe.
Der kritische Blick auf die öffentliche Debatte macht jedoch schnell deutlich: die Neoliberalismus-Kritik ist heute so weit verbreitet, so universell und ubiquitär, dass sie längst an Sprengkraft verliert. Auch unter Progressiven. Die Ablehnung des Neoliberalismus ist in Kreisen, die sich gerne als kritisch betrachten, so etwas wie eine Höflichkeitsgeste, eine Begrüßungssymbolik, die Zutritt gewährt.
Doch hitzige Debatten entbrennen und den Puls in Höhe jagen lässt heute eine andere Herausforderung, die allenfalls ein Derivat der Neoliberalismus-Kritik darstellt: die Identitätspolitik. Die auf Twitter aktiven öffentlichen Intellektuellen rollen allenfalls mit den Augen, wenn mal wieder ein Ordnungsökonom – typisch deutsch! – die Marktwirtschaft verteidigt. Ganz anders, wenn eine Journalistin die Seenotrettung von Flüchtlingen hinterfragt, ein Migrationsforscher die schleppende Integration von arabischstämmigen Einwanderern moniert, eine Soziologin Frauenfeindlichkeit im Islam thematisiert, ein Biologe behauptet, es gäbe nur zwei Geschlechter, oder eine Anzeige impliziert, sportliche Menschen lebten gesünder. Es sind diese Art der Äußerungen, die nach einem identitätspolitischen Muster als frauen-, migranten-, homosexuellen-, behinderten- oder übergewichtigenfeindlich kategorisiert werden können, die intensive und langanhaltende öffentliche Empörung auslösen.
Dürfen Social Media solchen Äußerungen eine Plattform bieten (›Hatespeech‹)? Sollen Journalisten sie thematisieren – und wenn ja, in welcher Form? Kritik an einer als schädlich oder gefährlich betrachteten Aussage ist unweigerlich mit dem Nachteil verbunden, dieser Aussage zusätzliche Aufmerksamkeit zu schenken. Wäre totschweigen nicht besser? Für den Journalismus ganz zweifellos: eine Zerreißprobe. Und ebenso für einen Band, der sich mit dem Verhältnis von Journalismus und Liberalismus beschäftigen soll. Er muss sich auch befassen mit Liberalität, mit der Offenheit öffentlich ausgetragener Debatten. Wenngleich wohlmeinende Begleiter der Herausgeber auch hiervon dringlich abrieten.
Eine dritte Zerreißprobe ergab sich unerwartet und in tragischer Dimension während der Arbeit am Buchprojekt: die Covid-19-Pandemie. Nicht alle werden sich vermutlich daran erinnern, aber es gab vor dem Frühjahr 2020 eine Zeit, eine kurze, in der der Ausbruch der Epidemie für den Journalismus eine Sachfrage darstellte. Im Mittelpunkt standen Fragen wie: Woher kommt die Erkrankung, wie verbreitet sie sich, welche Folgen hat sie, wie kann man sich gegen sie schützen? Doch allzu schnell wurde die Pandemie befallen von der Politisierung und Polarisierung. Antworten auf Sachfragen wurden zu Glaubensfragen, natur- und sozialwissenschaftliche Argumente wurden zu politischen Bekenntnissen. Und wieder wurde diskutiert: Was sollte auf Social Media veröffentlicht werden dürfen? Was sind gefährliche ›Fake News‹, ja eine ›Infodemie‹? Darf, ja muss der Journalismus politische Maßgaben unterstützen? Inwiefern sollte er Kritik an Regierung, an Verordnungen, an Einschränkungen von Freiheiten Raum geben?
Angesichts der zeitweise monothematischen medialen Befassung mit der Pandemie ergab sich so erstaunlich wenig Raum für kontroverse Debatten. Nicht nur das Publikum bekam angesichts schockierender Bilder aus Norditalien und New York Angst – es schien, als hätten auch Journalisten, Experten, Künstler und Politiker Angst, etwas Falsches zu sagen und einem pandemiediskurspolitischen Bannstrahl anheim zu fallen. Dass diese Angst nicht gänzlich unberechtigt gewesen sein mag, zeigte die hitzige Debatte um #allesdichtmachen. Die unter diesem Hashtag veröffentlichte, meist humorvoll intendierte kritische Auseinandersetzung zahlreicher, teils prominenter Künstler mit der Lockdown-Müdigkeit zog eine gewaltige Welle harscher Kritik und ängstlicher Distanzierungen nach sich. An vorderster Front kritisierten nicht selten: Journalisten. Journalismus als Schiedsrichter statt als Moderator des Diskurses? Eine Zerreißprobe.
Auch hier blieb die Warnung an die Herausgeber nicht aus: Bloß dieses Thema nicht anfassen, das endet unweigerlich in Verschubladisierung! Niemand möchte schließlich mit ›Covidioten‹ und Verschwörungstheoretikern in Verbindung gebracht werden.
Ist es nicht erstaunlich, wie schnell sich ganze Themengebiete ansammeln, die nach wohlmeinendem Rat nicht angesprochen werden sollten, wenn ein Band das Verhältnis von Journalismus, Liberalismus und Liberalität kritisch analysieren will? Gerade bei dieser Zielsetzung stellen allzu viele und allzu leichtfertig umrissene Tabuzonen unweigerlich eine contradictio in adiecto dar. Sind es nicht gerade die Zerreißproben, die uns faszinieren und beschäftigen sollten?
Journalismus, wie hältst du es mit…
»Haltung bewahren!« Wer konnte seinerzeit ahnen, dass diese konservativ anmutende Aufforderung zum Kern eines der hitzigsten Aufregerthemen der medialen Selbstreflektion der letzten Jahre werden würde. Braucht der Journalismus Haltung? Wenn ja, wieviel – und welcher Art? ›Haltungsjournalismus‹ ist heute in manchen Kreisen ein Schimpfwort vergleichbar der ›Lügenpresse‹. Und dennoch stehen zahlreiche Vertreter der Zunft zur Forderung nach Haltung im Journalismus. Hinter dem schillernden Begriff verbirgt sich dabei alles Mögliche: unverdächtige Überlegungen, wie das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, diskutable Aufforderungen, wie das Vertreten eines individuellen oder organisationalen Wertekanons – man denke etwa an die Grundsätze des Axel-Springer-Verlags –, oder eben der streitbare Einsatz für politische Projekte, wie etwa die ›Willkommenskultur‹.
Debatten bleiben meist unfruchtbar, wenn der Gegenstand der Debatte nicht klar definiert ist. So ist es auch beim Haltungsstreit. Sehen manche in journalistischer Haltung ein selbstverständliches Bekenntnis zu Berufsnormen, entdecken andere einen Verrat an genau diesen, eine Aufforderung zu Gesinnungsjournalismus, zu politischem Aktivismus statt distanzierter journalistischer Professionalität. Tatsächlich lässt sich im Fachdiskurs beobachten, wie Experten immer lautstarker gegen Ausgewogenheitsnormen argumentieren (›False Balance‹) und für klare normative Positionsbezüge (›Moral Clarity‹). Die Bewegung des ›konstruktiven Journalismus‹ möchte mehr als nur Probleme diagnostizieren, sie will Lösungsvorschläge unterbreiten. Vor allem jüngere Journalisten sehen nicht nur kein Problem, sondern gar eine Notwendigkeit darin, politische Anliegen wie den Klimaschutz oder die Flüchtlingsaufnahme zu unterstützen.
Wenn aber der Journalismus Distanz fallen lässt und Position bezieht, dann stellt sich die Frage: Wo genau findet sich diese Position? Wie tickt der Journalismus, welche Anliegen unterstützt er, welche lehnt er ab? Wo endet Journalismus, und von welchem Punkt an wechselt ein Journalist auf die ›Gegenseite‹, wird de facto Öffentlichkeitsarbeiter und PR-Experte, der bestimmte Anliegen, Persönlichkeiten oder Organisationen fördert?
Die Journalismusforschung bietet viele wertvolle Erkenntnisse zu Berufsnormen. Alle paar Jahre mal wird auch mit Hilfe von Umfragen gezeigt, welche politischen Parteien unter Journalisten mehr oder weniger populär sind. Doch insgesamt wissen wir erstaunlich wenig über die politischen Orientierungen im Journalismus, wie sie die berufliche Selbstselektion beeinflussen, redaktionelle Prozesse lenken, Machtdynamiken in Redaktionen prägen und am Ende in das journalistische Produkt einfließen. Dies gilt insbesondere für den Liberalismus und die Liberalität von Journalisten.
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