Was haltet ihr von Ognosie?
Ognosie(poln. ognozja , engl. ognosia , frz. o gnosie ) – narrativ orientierter, ultrasynthetischer Erkenntnisprozess, in dessen Zuge Dinge, Situationen und Phänomene einer Reflexion unterzogen und so in ein höheres Sinngefüge der wechselseitigen Bedingtheiten eingeordnet werden sollen, siehe auch → Fülle , → Vielheit ; ugs.: die Fähigkeit, sich Fragestellungen und Problemen auf synthetische Weise anzunähern, indem sowohl in den Narrativen selbst als auch in den Details, den einzelnen Teilchen des Ganzen, nach einer zugrundeliegenden Ordnung gesucht wird. Im Fokus der Ognosie stehen Ereignisketten außerhalb der kausalen und logischen Zusammenhänge, sie präferiert → Fügung , → Brücke , → Refrain , → Synchronizität . Häufig wird eine Verbindung zwischen Ognosie und → Mandelbrot-Menge , → Chaostheorie nahegelegt. Gelegentlich wird die Ognosie als alternative religiöse Haltung betrachtet, als → Alterreligion , die eine sog. verbindende Kraft nicht in einem übergeordneten Sein erkennt, sondern eher in untergeordneten, »niederen« Existenzen, den sog. → ontologischen Kleinformen . Eine Ognosiestörung äußert sich in der Unfähigkeit, die Welt als integrale Ganzheit wahrzunehmen, stattdessen wird alles zersplittert und unzusammenhängend gesehen; bei dieser Störung ist die Funktion des → Einblicks in die Situation, der Synthese und der Verknüpfung von scheinbar unverbundenen Fakten blockiert. In der Ognosietherapie wird häufig die Heilmethode der Romanbehandlung angewandt (ambulant auch die mündliche Erzählbehandlung).
Lasst uns eine Bibliothek der neuen Begriffe schaffen und sie mit ex-zentrischen Inhalten füllen – Inhalten, von denen das Zentrum noch nie gehört hat. Denn schließlich wird es uns an Wörtern, Termini, Wendungen, Phrasen fehlen, und wer weiß, vielleicht sogar an ganzen Stilen und Gattungen zur Beschreibung dessen, was da kommt. Neue Landkarten werden wir brauchen und den Mut, den Humor von Wanderern, die sich nicht scheuen, den Kopf aus der Sphäre der bisherigen Welt hinauszustrecken, über den Horizont der bisherigen Wörterbücher und Enzyklopädien. Ich bin schon gespannt, was wir dort sehen werden.
Deutsch von Lisa Palmes
Ich bin mit den Büchern von Jules Verne aufgewachsen – sie haben mir eine ferne Welt gezeigt, haben meine Vorstellung davon geformt, wie der Mensch des Westens auf Reisen geht. Das nahm ich mir zum Maß, dem wollte ich nacheifern, während ich in der abgeschlossenen und öden Sphäre der Volksrepublik lebte. Und der Verne’sche Reisende war nicht irgendwer – auch wenn die letzten weißen Flecken noch nicht von der Weltkarte verschwunden waren, schien er die Gefahren nicht wahrzuhaben, selbstsicher und mutig machte er sich auf den Weg, im Gefühl, dass ihm die Welt gehöre, dass ihm dies alles zustehe. Auf seinen Reisen behielt er seine Gewohnheiten bei, blieb der Mode seines Landes treu (unverzichtbar die tabakbraunen Hosen und der schwarze Gehrock). Für gewöhnlich genügte ihm auch die eigene Muttersprache. Stets dachte er daran, die neuesten technischen Erfindungen mitzunehmen, die ihm im entscheidenden Moment aus der Klemme halfen, ihm das Leben retteten. Und selbst wenn er ein guter, ein weltoffener Mensch war, steckten doch in der Tiefe seiner Seele die Überzeugung seiner evolutionären Überlegenheit sowie das Bewusstsein, dass es unstrittige historische Prozesse gebe, die früher oder später jeden Winkel der Erde auf das zivilisatorische Niveau des Westens heben würden. Atemberaubende Abenteuer brachten ihn in die entferntesten Einöden, doch auch dort fühlte er sich sicher, denn noch in den einsamsten Gegenden traf er auf einen Beamten des eigenen Kulturkreises, der ihm im Falle eines Falles den verlorenen Reisepass ersetzte und ihn mit etwas Klatsch über die Eingeborenen versorgte.
In der Form des Pastiches kehrt der Verne’sche Standpunkt häufig in der Popkultur wieder, zum Beispiel in den Indiana-Jones-Filmen. Hier ist die Welt nur ein exotisches Bühnenbild für die Heldentaten des Protagonisten, deren Struktur an ein Computerspiel denken lassen. Und wie faszinierend die Kultur auch wäre, auf die der Held träfe – er wird sich nicht ändern, wird bis zum Schluss derjenige bleiben, der er im Moment seiner Ankunft war. Eingeschlossen in der dichten Kapsel der westlichen Identität, zeigt er sich wie imprägniert gegen alles Fremde, auch wenn er als Archäologe agiert, der in dieser Hinsicht aufgeschlossen sein sollte. Fixiert auf sein Ziel (den Schatz zu finden, das Geheimnis zu lüften), knüpft er keine engeren Beziehungen zu den Eingeborenen, nimmt keinen kulturellen Dialog auf. In der festen Überzeugung, dass die Menschen ihn verstehen müssten, spricht er Englisch oder Französisch mit ihnen. Er hält an seinen Standards fest, lässt sich auf keine engeren Verhandlungen ein, behandelt alles und jeden von oben herab, seiner zivilisatorischen (und damit seiner menschlichen) Überlegenheit sicher. Wir haben die legendäre Szene vor Augen, in der Indiana Jones von einem Ismailiten zu einem Duell herausgefordert wird. Wir befinden uns auf einem Basar, inmitten der Menge, die beiseitetritt, um den Kämpfenden Platz zu machen. Als der traditionell gekleidete Krieger seinen Säbel wirbeln lässt, um seine Fertigkeiten zu zeigen, zückt Indiana Jones, der es eilig hat, seine Pistole und erschießt ihn. Ende des Duells.
Überrumpelt von dieser Wendung, muss der Zuschauer lachen, auch wenn ihn die eigene Reaktion überrascht. Die Nonchalance, ja Dreistigkeit des Indiana Jones wirkt imponierend, zugleich spricht sie jedem Reflex politischer Korrektheit Hohn.
Im Grunde nimmt der Reisende des Westens die Welt als nicht wirklich wahr. Gleich einem ewig eilenden Schatten bewegt er sich durch die Länder und Kulturen, die er besucht. Nichts berührt er, in nichts ist er einbezogen, er bleibt verkapselt in seinem Überlegenheitsgefühl.
Die unschuldige exotische Welt, in die der westliche Reisende vom Schlage eines Indiana Jones gelangt, geht zumeist am Ende der Geschichte auf dramatische Weise unter. Der Untergang vollzieht sich mit einem Donnerschlag – als sollte diese Welt, wenn das Ziel erreicht, das Geheimnis aufgedeckt ist, ihre Existenzberechtigung verlieren. Der Zuschauer muss einstürzende Pyramiden sehen, zusammenfallende unterirdische Verliese, Vulkanausbrüche und ähnliche apokalyptische Bilder. Hier gilt die alte römische Formel: veni, vidi, vici. Was gesehen und erfahren (benutzt) wurde, ist abgehakt, mit anderen Worten: bezwungen. Und hört damit auf zu existieren.
Das Paradigma des Reisenden im 19. Jahrhundert erfuhr seine industrialisierte Vermassung durch den modernen Tourismus. Erbe des Phileas Fogg und des Indiana Jones ist heute der Tourist, der im Reisebus in zwölf Tagen Mexiko durchquert auf einer Tour, die natürlich in Cancún enden muss, dem scheußlichsten Ort, den ich je gesehen habe – monströse Hotelanlagen und abgeteilte Strandabschnitte. Oder er erholt sich all-inclusive in türkischen Seebädern und gibt sich alle Mühe, nicht daran zu denken, dass ein paar Hundert Meter weiter die Leichen von Flüchtlingen an den Strand gespült werden.
Der blasse und vom langen Sitzen steif gewordene Reisende knipst verwackelte Bilder durch die Scheibe des Busses, und die Beine kann er erst dort wieder ausstrecken, wohin ihn der Wille und der Geschäftssinn des Reiseleiters bringen. Während des kurzen Aufenthalts sieht er dann mit eigenen Augen, was die Reiseführer empfehlen, und befriedigt vermerkt er in Gedanken, dass dies alles tatsächlich existiert. An den Abenden bekommt der Tourist ein exotisches real life geboten, das alles andere als real ist und mit life eigentlich gar nichts zu tun hat.
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