Viele Welten an einem Ort
Noch niemals in der Geschichte der Menschheit waren wohl die Abstände zwischen den Generationen so groß wie heute. Damit meine ich die tiefen Gräben, die sich infolge der Entwicklung von künstlicher Intelligenz und der lawinenartigen Veränderungen beim Zugang zu Informationen aufgetan haben. Es sieht ganz danach aus, als hätte sich die menschliche Gesellschaft in Generationenzonen aufgeteilt, die sich in ihrer Sicht auf die Welt, ihrem Wissen, in der Verwendung und Beschaffenheit ihrer Sprache, ihren Fähigkeiten, ihrer Mentalität, ihrer politischen Teilnahme und ihren Lebensentwürfen unterscheiden. Während einerseits die Unterschiede zwischen den Kulturen und Ethnien in unserer Welt, die einen rasend schnellen Globalisierungsprozess durchläuft (jedenfalls galt das bis zur Pandemie), sich sukzessive verwischten und verschwanden und alles immer ähnlicher wurde, vertieften sich andererseits die Gräben zwischen den Generationen. Immer klarer und lauter wird der Konflikt zwischen Alt und Jung verbalisiert; besonders erkennbar wird dies nun in der Pandemie, die durch die altersbedingten Unterschiede bei der körperlichen Widerstandskraft gegen das Virus zusätzlich dämonisiert wird. Ähnliche Ungleichheiten haben sich allerdings auch schon früher gezeigt, bei den Klimaveränderungen und der Notwendigkeit ihrer Eindämmung. Auch hier traten die Jüngeren gegen die Älteren auf und warfen ihnen – zu Recht – einen Mangel an perspektivischem Denken und konkreten Verbesserungsplänen vor. Diese Kluft ist jedoch nicht nur Ausdruck eines Konflikts zwischen Alt und Jung, sondern auch einer eigentümlichen Unstimmigkeit der verschiedenen Altersgruppen von Menschen im selben geographischen Raum. Enkel und Großeltern haben heute weniger gemeinsam als in früheren Zeiten die Einwohner von New York und Sandomierz. Und bei Urenkeln und Urgroßeltern müsste man zur Veranschaulichung wohl auf interplanetare Entfernungen zurückgreifen … Die einzelnen Generationen verwenden heute nicht nur ihre eigenen Sprachen, sondern auch ihre eigenen Alltagsrituale mit jeweils spezifischen Konsumptionsmustern und Lebensstilen. Sie haben eigene Vorstellungen von der Zukunft und sind auf andere Weise von ihr abhängig, ihr Bezug zur Vergangenheit ist ein anderer, ebenso ihr Verhältnis zur Gegenwart. Die Enkel sitzen über immer neuen Apps, die Großeltern vor ihren Lieblingssendungen im Fernsehen. Internetblasen dringen ein ins reale Leben, was dort besonders deutlich hervortritt, wo es die Älteren betrifft. Eine eigentümliche Erfahrung waren für mich die »Seniorenstunden«, die in Polen während der Pandemie festgelegt wurden: An den Vormittagen zwischen neun und zwölf sah man nur Menschen ab fünfundsechzig auf die Straße gehen und ihre Einkäufe erledigen. An den Nachmittagen wiederum standen nur Dreißig- bis Vierzigjährige Schlange vor den Supermärkten. Der Anfang einer Dystopie …
Der Zerfall der Bevölkerung in verschiedene »Stämme« je nach Generationszugehörigkeit veranschaulicht, wie viele Realitäten sich in ein und demselben Raum befinden. Sie verzahnen, überschneiden, stimulieren sich gegenseitig – und bleiben dennoch strikt getrennt.
Die großen Veränderungen traten meist in der Folge von Kataklysmen und Kriegen ein. So sollen die Menschen kurz vor dem Ersten Weltkrieg das Gefühl gehabt haben, es nahe das Ende einer Etappe, einer ganzen Welt. Vielen erschien die Situation unerträglich, wenn sie sich auch dieses Eindrucks nicht vollkommen bewusst waren. Heute können wir den Enthusiasmus nicht mehr verstehen, der jubelnde Menschenmengen auf die Straßen trieb, wo sie mit Vivatrufen die in den Krieg ziehenden jungen Männer verabschiedeten. Ihr munterer Schritt – der wegen der damaligen Filmtechnik zackig wirkt, als marschierten Marionetten – führte die Soldaten irgendwo weit fort, bis hinter den Horizont, wo bereits die Schützengräben von Verdun und die Oktoberrevolution lauerten. Bald sollte die ganze Ordnung ihrer Welt einstürzen. Auf dass wir diesen Fehler nicht wiederholen …
Heute – wo der seltsame Sommer 2020 seinem Ende zugeht – sind wir es, die nicht wissen, was auf sie zukommt. Sogar die Experten hüllen sich in Schweigen; sie wollen nicht zugeben, dass die in keiner anderen Lage sind als die heutigen Meteorologen, die wegen der klimatischen Wirren das Wetter nicht mehr vorhersagen können. Die Welt um uns herum ist zu komplex geworden – und das in mehreren Dimensionen zugleich. Eine spontane, reflexartige Antwort auf diesen Zustand ist die Reaktion von Traditionalisten und Konservativen, die die gestiegene Komplexität wie eine Krankheit, wie eine Störung behandeln. Als Heilmittel wollen sie uns Nostalgie, die Rückkehr in die Vergangenheit verordnen, halten krampfhaft an Traditionen fest. Da die Welt zu kompliziert geworden ist, muss man sie vereinfachen. Dass wir mit der Realität nicht zurechtkommen – umso schlimmer für die Realität. Die Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit zieht sich durch unser Denken, durch die Mode, durch die Politik. Was Letztere betrifft, so verbreitet sich der Glaube, man könne die Zeit zurückdrehen und in denselben Fluss steigen, dessen Wasser vor Jahrzehnten vorüberflossen. Ich glaube nicht, dass wir heute in das damalige Leben noch hineinpassten. Wir fänden nicht mehr genügend Platz in der Vergangenheit. Weder unsere Körper noch unsere Psyche.
Und wenn wir einen Schritt zur Seite machten? Wenn wir die ausgetretenen Pfade unserer Überlegungen, Gedanken, Diskurse verließen und uns aus den Systemen von Blasen hinausbegäben, die alle um ein gemeinsames Zentrum kreisen? An einen Ort, von dem wir besser und weiter sehen, von dem aus die Konturen des breitesten Kontextes erkennbar sind.
Als Greta Thunberg postulierte: Schließt die Bergwerke, fliegt nicht mehr, konzentriert euch auf das, was ihr habt, und nicht auf das, was ihr alles haben könntet, wollte sie damit wohl kaum sagen, dass wir wieder auf Pferdewagen umsteigen und in Hütten mit Holzöfen ziehen sollten. Als Schwarzer Schwan hat sich hier die Pandemie erwiesen, die – wie es bei Schwarzen Schwänen eben so ist – niemand vorausgeahnt hat und die alles verändert. Mein Lieblingsbeispiel für einen Schwarzen Schwan sind die Ereignisse in London zu Ende des 19. Jahrhunderts: Die Einwohner der hoffnungslos überfüllten, engen und verdreckten Stadt sorgten sich, dass die Haufen an Pferdemist auf den Straßen in naher Zukunft den ersten Stock der Wohnhäuser erreichen würden, wenn das Verkehrsaufkommen weiter so rasant anstiege. Schon begann man, nach Lösungen zu suchen, schon meldete man Patente auf spezielle Ablaufsysteme für den Straßenrand an und rieb sich die Hände in Erwartung der florierenden Geschäfte mit dem Abtransport von Pferdemist. Und da wurde das Auto erfunden.
Im kognitiven Sinn kann der derzeitige Schwarze Schwan einen Wendepunkt darstellen – allerdings nicht, weil er möglicherweise eine Wirtschaftskrise ausgelöst oder den Menschen ihre Vergänglichkeit und Sterblichkeit vor Augen gehalten hätte, denn schließlich gibt es zahlreiche und höchst unterschiedliche Auswirkungen der Pandemie. Die wichtigste davon scheint mir allerdings zu sein, dass das tief verinnerlichte Narrativ vom Menschen als Herrn der Schöpfung, der Kontrolle über die ganze Welt besitzt, einen Bruch erfahren hat. Vielleicht ist dem Menschen als Gattung die Macht zu Kopfe gestiegen, die ihm aufgrund seines Verstandes und seiner Kreativität zufiel, und das wiederum hat ihn zu dem Gedanken verleitet, dass er und seine Interessen immer und überall im Vordergrund stünden. Mit einer anderen Perspektive, einem anderen Blick aber wird er sich ebenso wichtig und obendrein unentbehrlich fühlen können – als entscheidendes Auge des gesamten Netzes nämlich, als Übermittler von Energie, vor allem aber als Verantwortlicher für die Gesamtheit des komplexen Gebäudes. Verantwortung ist dabei der Faktor, der es ihm gestattet, sich ein Gefühl der eigenen Wichtigkeit zu bewahren, und der dadurch das mühevoll im Laufe von Jahrhunderten errichtete Konstrukt der Vorrangstellung des Homo sapiens nicht abwertet.
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