Ich bin überzeugt, dass unser Leben nicht nur eine Summe von Ereignissen ist, sondern ein verschlungenes Sinngefüge – das wir selbst schaffen, indem wir den Ereignissen jeweils einen Sinn zuschreiben. Die einzelnen Sinnhaftigkeiten wiederum ergeben zusammen ein wundersames Geflecht von Geschichten, Begriffen, Ideen, und man könnte es als eines der Elemente bezeichnen, die – wie Luft, Erde, Feuer und Wasser – unsere Existenz physisch bedingen und uns als Organismen formen. Die Geschichte, das Erzählen ist somit das fünfte Element, das uns die Welt auf ebendiese und keine andere Weise sehen lässt, das uns ihre unendliche Vielfalt und Vielschichtigkeit verstehen, unsere Erfahrung einordnen und sie von Generation zu Generation, von einer Existenz zur anderen weitergeben lässt.
Der Holzstich aus Flammarions Werk zeigt einen kairotischen Augenblick. Kairos ist eine der niederen Gottheiten, die verglichen mit den Olympischen Göttern nicht besonders bedeutend erscheinen und sich nur irgendwo in der mythologischen Peripherie bewegen. Jener Kairos nun ist ein recht eigentümlicher Gott mit einer ebenso eigentümlichen Frisur. Sie ist sein Erkennungsmerkmal: Sein Hinterkopf ist kahl, der Stirn entspringt ein Schopf, bei dem man ihn packen kann, wenn er näher kommt – nicht mehr aber, wenn er sich bereits wieder entfernt. Er ist der Gott der Gelegenheit, des flüchtigen Moments, der unfassbaren Möglichkeit, die sich nur für einen kurzen Augenblick eröffnet und die man, ohne zu zögern, ergreifen (beim Schopfe packen!) muss, damit sie nicht ungenutzt vorübergeht. Übersieht man Kairos, verpasst man die Gelegenheit zur Veränderung – zur metanoia –, die aber nicht Resultat eines langen Prozesses, sondern eines folgenschweren Moments ist. In der griechischen Tradition bezeichnet kairos die Zeit, jedoch nicht den mächtigen Zeitstrom, den chronos , sondern eine Ausnahmezeit: den entscheidenden, alles verändernden Augenblick. Kairos ist immer mit einer Entscheidung des Menschen selbst verbunden, nicht mit unweigerlichem Schicksal, Fatum, äußeren Umständen. Die symbolische Geste des »Beim-Schopfe-Packens« bedeutet, sich der Möglichkeit zur Veränderung gewahr zu werden, die Schicksalswende selbst in die Hand zu nehmen.
Für mich ist Kairos der Gott der Exzentrik – wenn man unter »Exzentrik« die Aufgabe der »zentrischen« Sichtweise, der ausgetretenen Pfade im Denken und Handeln versteht, das Verlassen wohlbekannten Terrains, das mittels gemeinschaftlicher Denkgewohnheiten, Rituale, verfestigter Weltanschauungen gewissermaßen abgesteckt worden ist. Exzentrik gilt seit jeher als wunderlich und randständig – dabei muss doch alles Schöpferische und Geniale, das die Welt in eine neue Richtung lenkt, zwangsläufig »ex-zentrisch« sein. Exzentrik bedeutet, das Althergebrachte, das, was als normal und selbstverständlich angesehen wird, spontan und auf spielerische Art infrage zu stellen; sie ist eine Herausforderung an Konformismus und Hypokrisie, ein kairotischer Akt des Mutes, dessen es bedarf, im richtigen Moment zuzugreifen und das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Wir haben das allgemeine Wissen verdrängt und den Sinn für eine ganzheitliche Wahrnehmung irgendwo verloren. Nach und nach gehen die letzten Gelehrten von uns, die großen »Ex-zentriker« – wie etwa Stanisław Lem oder Maria Janion –, die Verbindungen zwischen scheinbar weit auseinanderliegenden Wissensgebieten zu erfassen und aufzugreifen in der Lage sind, die ihren Kopf über den Weltenrand der vereinbarten Ordnung hinausstrecken. Früher haben wir wenigstens versucht, die Welt in einer Ganzheit zusammenzufassen, indem wir kosmogonische und ontologische Visionen entwickelten und Sinnfragen stellten. Doch dann sind wir irgendwo auf unserem Weg proletarisiert worden – auf ähnliche Weise, wie die Handwerker, die noch das vollständige Produkt anfertigen konnten, durch die kapitalistische Fabrikation proletarisiert und zu Arbeitern gemacht wurden, die nur noch die Einzelteile herstellten und sich des Ganzen nicht einmal mehr bewusst waren. Der Vorgang, in dessen Zuge sich die menschliche Gesellschaft in einzelne Blasen unterteilt, ist der Prozess einer unvorstellbaren, totalen Proletarisierung. Wir ziehen uns in unsere Blasen zurück, machen es uns bequem in der abgesonderten Sphäre unserer eigenen Erfahrung, die uns den Zugang zu den Erfahrungen und Gedanken anderer blockiert – und wir wollen es so, es geht uns gut damit, während die anderen, die wirklich anderen, die zu verstehen oder auch nur wahrzunehmen ein Hinauslehnen über den Rand von uns verlangen würde, uns herzlich egal sind.
Der öffentliche Raum existiert natürlich, jedoch eher als Substitut, als Schein, als ein Schauspiel vor stark abgenutzten Kulissen, das die Herrschenden und ihre Rituale sich angeeignet haben. In den ausgetretenen Zentren, den früheren Orten des Gedankenaustauschs, gibt es keine Luft mehr. Die Agora ist nur mehr eine Ansammlung von Strecken und Bahnen, auf denen wir uns mechanisch bewegen. Die Universitäten haben ihre alte Rolle verloren und sind zum grotesken Abklatsch ihrer selbst geworden – statt Wissen zu erzeugen und Plattformen gegenseitiger Verständigung zu schaffen, ziehen sie sich hinter ihre Mauern und Portale zurück, indem sie den Wissenszugang beschränken und Forschungsergebnisse eifersüchtig voreinander geheim halten. Die Forschenden wetteifern blindwütig um Fördermittel und Punkte, haben sich in rivalisierende Lohnarbeiter verwandelt. Da wir das große Ganze nicht sehen, werden wir hin- und hergeworfen von lokalen Verwirbelungen und Strudeln und bleiben abhängig von den einzelnen Teilen des großen Puzzles – der gegebenen Welt und der, die wir darüber errichten.
In meinem Schreiben versuche ich immer, das Augenmerk und die Sensibilität meiner Leser und Leserinnen auf das große Ganze zu lenken. Ich habe mich am allwissenden Erzähler abgearbeitet, habe mit fragmentarischen Formen provoziert, indem ich suggerierte, es gebe Konstellationen, die über die simple Summe von Bestandteilen hinausgehen und einen eigenen Sinn kreieren. Mir scheint, die Literatur als unaufhörlicher Prozess des Erzählens der Welt hat größere Möglichkeiten als irgendetwas sonst, diese Welt in ihrer gesamten Perspektive gegenseitiger Einflüsse und Verbindungen zu zeigen. Weit gefasst, so weit wie möglich, ist sie von ihrer Natur her ein Netz, das die verzweigte, umfassende Korrespondenz zwischen allen Teilhabern des Seins verbindet und abbildet – eine raffinierte und ganz besondere, präzise und zugleich totale Art der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Ich komme in diesem Text immer wieder auf die Literatur zu sprechen – hier erwähne ich Kairos, da beziehe ich mich auf Flammarion und den anonymen Holzstich, den er irgendwo auftrieb, um sein Buch L’atmosphère. Météorologie populaire zu illustrieren. Viele Menschen, das weiß ich, sehen Literatur als leichte Unterhaltung an, in Form von Büchern, die man »wegliest« – ein Zeitvertreib, ohne den es sich ebenso glücklich und erfüllt leben lässt. Im weitesten Verständnis aber ist die Literatur ein Sesam der anderen Gesichtspunkte, der unterschiedlichen, durch den individuellen Verstand der einzelnen Menschen gefilterten Weltsichten. Und darin lässt sie sich mit nichts anderem vergleichen. Literatur, auch die älteste, die mündlich überlieferte Literatur, schafft Ideen und zeichnet Perspektiven, die sich tief in unserem Verstand verankern und ihn formatieren – ob wir es nun wollen oder nicht. Sie ist die Heimat der Philosophen (was ist denn Platons Gastmahl anderes als ein Stück gute Literatur?), bei ihr beginnt das Philosophieren.
Es wäre schwierig, eine Vision der Literatur für neue Zeiten zu kreieren, insbesondere, weil gut informierte Quellen zu wissen meinen, dass eben derzeit die letzte lesende Generation heranwächst. Trotzdem möchte ich, dass wir uns weiterhin zugestehen, neue Geschichten zu ersinnen, neue Begriffe und neue Wörter. Zugleich aber weiß ich, dass in der Welt – in diesem gewaltigen, wandelbaren, flirrenden Universum – nichts jemals neu ist. Es ist lediglich eine andere Konfiguration, die die Dinge auf andere Weise darstellt, neue Assoziationen und damit neue Begriffe schafft. Der Terminus »Anthropozän« ist gerade einmal dreißig Jahre alt, doch dank ihm sind wir imstande zu begreifen, was rings um uns und mit uns geschieht. Er setzt sich aus zwei gut bekannten griechischen Wörtern zusammen: ánthrōpos (Mensch) und kainós (neu), und er beweist den großen Einfluss des Menschen auf die weltweit vor sich gehenden Prozesse in der Natur.
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