1 ...7 8 9 11 12 13 ...24 Angenommen, heute würde irgendjemand plötzlich verkünden, er habe eine Gruppe wundersamer, unsichtbarer Lebewesen beobachtet, die noch kein anderer jemals gesehen hat. Würden wir ihm glauben? Oldenburg hatte sicherlich seine Zweifel, wie auch bereits bei Leeuwenhoeks früheren Beschreibungen der »Tierlein«. Dennoch veröffentlichte er 1677 Leeuwenhoeks Brief – »ein außerordentliches Denkmal für die aufgeschlossene Skepsis der Wissenschaft«, wie Nick Lane es nennt. Allerdings fügte Oldenburg eine warnende Notiz hinzu: Er erklärte, die Gesellschaft wolle Leeuwenhoeks Methoden im Einzelnen kennenlernen, damit auch andere seine unerwarteten Beobachtungen bestätigen konnten. Aber Leeuwenhoek kooperierte nicht so recht. Seine Technik zur Herstellung von Linsen war ein gut gehütetes Geheimnis. Statt es preiszugeben, zeigte er die Tierlein einem Notar, einem Rechtsanwalt, einem Arzt und anderen gut beleumundeten Herren, die daraufhin der Royal Society berichteten, er könne tatsächlich sehen, was er zu sehen behauptete. Gleichzeitig bemühten sich andere Mikroskopiker darum, Leeuwenhoeks Arbeiten nachzuvollziehen – und scheiterten. Selbst der große Hooke hatte anfangs zu kämpfen, und der Erfolg stellte sich erst ein, als er zu den verhassten Einzellinsen-Mikroskopen wechselte. Sein Erfolg bestätigte Leeuwenhoek und festigte den Ruf des Niederländers. Im Jahr 1680 wurde der ungebildete Textilkaufmann zum Mitglied der Royal Society ernannt. Und da er weder Latein noch Englisch lesen konnte, erklärte sich die Gesellschaft bereit, ihm die Mitgliedsurkunde auf Niederländisch auszustellen.
Nachdem Leeuwenhoek als erster Mensch überhaupt Mikroorganismen gesehen hatte, sah er nun auch als erster seine eigenen. Im Jahr 1683 fielen ihm zwischen seinen Zähnen weiße, teigige Beläge auf, und wie es seine Gewohnheit war, betrachtete er sie durch seine Linsen. Das Ergebnis? Weitere Lebewesen »in sehr hübscher Bewegung«! Da gab es lange, torpedoförmige Stäbchen, die »wie ein Hecht« durch das Wasser schossen, in dem er seinen Zahnbelag gelöst hatte, und kleinere, die sich drehten wie ein Kreisel. »Alle Menschen, welche in unseren Vereinigten Niederlanden leben, sind nicht so zahlreich wie die lebenden Tiere, die ich genau an diesem Tag in meinem eigenen Mund mit mir herumtrage«, berichtete er. Er zeichnete die Mikroben und schuf damit ein einfaches Bild, das die Mona Lisa der Mikrobiologie wurde. Außerdem studierte er sie in den Mündern anderer Bürger aus Delft: von zwei Frauen, einem achtjährigen Kind und einem alten Mann, der sich angeblich nie die Zähne geputzt hatte. Er setzte den Proben, die er bei sich selbst abgekratzt hatte, sogar Essig zu und beobachtete, wie die Tierlein starben – der erste Bericht über Desinfektion.
Als Leeuwenhoek 1723 im Alter von neunzig Jahren starb, war er zu einem der berühmtesten Mitglieder der Royal Society geworden. Er hinterließ der Gesellschaft ein schwarzes, lackiertes Kästchen, in dem sechsundzwanzig seiner verblüffenden Mikroskope einschließlich der montierten Objekte lagen. Bizarrerweise verschwand die Kiste und tauchte nie wieder auf – ein umso tragischerer Verlust, als Leeuwenhoek niemandem je genau erklärt hatte, wie er seine Instrumente herstellte. In einem Brief beschwerte er sich, die Studenten interessierten sich mehr für Geld oder Ruhm als dafür, »Dinge zu entdecken, welche unseren Blicken verborgen sind«. »Nicht einer unter tausend Männern ist zu solchen Studien in der Lage, denn sie benötigen viel Zeit und man muss viel Geld aufwenden«, klagte er. »Und vor allem sind die meisten Männer nicht neugierig, es zu wissen: Nein, manche zögern nicht einmal zu sagen: Was spielt es schon für eine Rolle, ob ich es weiß oder nicht?« 6
Seine Einstellung wäre fast der Tod seines Erbes gewesen. Als andere durch ihre minderwertigen Mikroskope blickten, sahen sie nichts, oder nichts als Produkte ihrer Einbildung. Das Interesse schwand. Als Carl von Linné in den 1730er-Jahren begann, alle Lebensformen zu klassifizieren, fasste er sämtliche Mikroorganismen zu der Gattung Chaos (was so viel wie »formlos«) und dem Stamm Vermes (»Würmer«) zusammen. Nachdem man die Welt der Mikroorganismen entdeckt hatte, sollten noch eineinhalb Jahrhunderte vergehen, bevor man sich daranmachte, sie ernsthaft zu erforschen.
Heute werden Mikroorganismen so häufig mit Schmutz und Krankheit in Verbindung gebracht, dass die meisten Menschen wahrscheinlich angeekelt zurückschrecken würden, wenn man ihnen zeigte, welche Vielfalt allein in ihrem Mund zu Hause ist. Leeuwenhoek hegte diese Abscheu nicht. Tausende von winzigen Dingen? In seinem Trinkwasser? In seinem Mund? Im Mund jedes Menschen? Wie aufregend! Wenn er den Verdacht hatte, dass sie Krankheiten verursachen können, brachte er es in seinen Schriften, in denen er so auffällig auf Spekulationen verzichtete, nicht zum Ausdruck. Andere Gelehrten waren weniger zurückhaltend. Der Wiener Arzt Marcus Plenciz behauptete 1762, mikroskopisch kleine Lebewesen könnten Krankheiten verursachen, weil sie sich im Körper vermehren und durch die Luft verbreiten. »Jede Krankheit hat ihren Organismus«, schrieb er weitsichtig. Leider hatte er für seine Behauptungen keine Belege, und deshalb konnte er auch andere nicht davon überzeugen, dass diese unbedeutenden Lebewesen eine Bedeutung haben. »Ich werde keine Zeit mit der Bemühung vergeuden, diese absurden Hypothesen zu widerlegen«, schrieb ein Kritiker. 7
Das alles änderte sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch den anmaßenden und streitlustigen französischen Chemiker Louis Pasteur. 8Er konnte kurz hintereinander nachweisen, dass Bakterien verschiedene Flüssigkeiten sauer werden lassen und dafür sorgen, dass Fleisch verwest. Und wenn sie sowohl für die Gärung als auch für die Verwesung verantwortlich sind, so behauptete Pasteur, dann können sie auch Krankheiten hervorrufen. Diese »Keimtheorie« hatten auch Plenciz und andere bereits vertreten, sie war aber nach wie vor umstritten. Man glaubte eher, Krankheiten würden durch Miasmen hervorgerufen, schlechte Luft, die von verwesender Materie ausging. Pasteur bewies 1865 etwas anderes: Er entdeckte, dass zwei Krankheiten, an denen die Seidenraupen Frankreichs litten, von Mikroben ausgelöst wurden. Er isolierte die infizierten Eier, verhinderte so, dass die Krankheiten sich ausbreiteten, und rettete die Seidenindustrie.
Zur gleichen Zeit beschäftigte sich der Arzt Robert Koch in Deutschland mit einer Milzbrandepidemie, die das Vieh dahinraffte. Andere Wissenschaftler hatten im Gewebe der betroffenen Tiere bereits ein Bakterium namens Bacillus anthracis gesehen. Diese Mikroorganismen spritzte Koch 1876 einer Maus – woraufhin sie starb. Er gewann die Bakterien aus dem toten Nagetier und injizierte sie einem weiteren – das ebenfalls starb. Hartnäckig wiederholte er den grausigen Versuch über zwanzig Generationen hinweg, und jedes Mal geschah das Gleiche. Damit hatte Koch eindeutig gezeigt, dass das Bakterium den Milzbrand verursachte. Die Keimtheorie der Krankheiten stimmte.
Nun hatte man die Mikroorganismen endgültig wiederentdeckt, und sie wurden sofort in die Rolle der Todesboten gedrängt. Sie waren Keime, Pathogene, Überbringer von Seuchen. In den zwanzig Jahren, die auf die Arbeit mit dem Milzbrand folgten, hatten Koch und viele andere entdeckt, welche Bakterien hinter Lepra, Tripper, Typhus, Tuberkulose, Cholera, Diphtherie, Tetanus und Pest stehen. Wie für Leeuwenhoek, so ebneten auch hier neue Hilfsmittel den Weg: bessere Linsen, neue Methoden, um Mikroorganismen in Reinkulturen auf Platten mit gallertartigem Agar heranzuzüchten, und neue Färbemethoden, mit denen man Bakterien unter dem Mikroskop besser ausmachen und identifizieren konnte. Vom Identifizieren ging man sofort zum Eliminieren über. Von Pasteur angeregt, begann der britische Chirurg Joseph Lister, in seiner Praxis neue Methoden zum Keimfreimachen anzuwenden: Er zwang seine Mitarbeiter, Hände, Instrumente und Operationssäle chemisch zu desinfizieren, und bewahrte damit unzählige Patienten vor verheerenden Infektionen. Andere suchten nach Wegen, um Bakterien an ihrer Tätigkeit zu hindern und so Krankheiten zu heilen, die Hygiene zu verbessern und Nahrung haltbar zu machen. Die Bakteriologie wurde zu einer angewandten Wissenschaft: Man studierte Mikroorganismen, um sie abzuwehren oder zu zerstören.
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