Wir haben uns für dieses Buch umgeschaut: Wo sind entlang der Lebensmittelkette vom Acker bis auf unsere Teller schon heute künftige Technologien im Einsatz und wo werden sie erprobt? Wo stehen die Garagen, in denen Gründer*innen und Tüftler*innen an Zukunftstechnologien unserer Lebensmittelwelt arbeiten? Wie funktionieren diese neuen Algorithmen, wie arbeitet die künstliche Intelligenz der New-Food-Economy, und wie beeinflusst sie unseren Appetit und unsere Esskultur?
Was wir gesehen haben, ist ein grundlegender Wandel – in der Art, wie wir uns ernähren, wie wir Lebensmittel herstellen, verarbeiten, vertreiben und konsumieren. Neue Technologien, Digitalisierung, eine Gründungswelle und eine Generation von jungen Konsument*innen und Gründer*innen, die sich nicht mehr um alte Denkmuster scheren, prägen diesen Wandel. Vieles mag noch fern oder wie Scien ce-Fiction erscheinen – obwohl es längst Realität ist. Anderes ist bereits unbemerkt in unseren Alltag gesickert und bedarf dringend unserer Aufmerksamkeit.
Es gibt viele Gründe zur Hoffnung: Wir sehen neue Technologien, neue Möglichkeiten, Chancen, unser Lebensmittelsystem nachhaltiger, fairer und leckerer zu machen.
Es gibt aber auch Gründe zur Sorge: Wir sehen neue Herausforderungen und Probleme, die wahrgenommen, besprochen, angegangen und gelöst werden müssen.
Wir glauben, dass man den tief greifenden Wandel, der in unserer Lebensmittelwelt geschieht, nur dann verstehen kann, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes über den Tellerrand hinausschaut, die technologischen ›Zutaten‹ hinterfragt und mit denen spricht, die am bunten Zukunftsmenü mitkochen. Denn es betrifft uns am Ende alle.
Die tief greifenden Veränderungen können schneller auf unserer Gabel ankommen, als wir denken. Deshalb sehen wir jetzt den richtigen – und im ungünstigsten Fall vielleicht den letzten – Zeitpunkt, um über wegweisende Richtungsentscheidungen dieser Entwicklungen zu sprechen. Geht es um eine Dystopie vom Untergang? Geht es um die Utopie eines Schlaraffenlandes, das sich von selbst einstellt? Oder geht es um einen gemeinsamen, demokratischen Prozess? Vielerorts herrscht Sprachlosigkeit: Viele Institutionen wollen nicht aus ihren tradierten Denkmustern heraus, unterschätzen oder verkennen die neuen Möglichkeiten. Damit droht, dass wir in Deutschland vom internationalen Diskurs abgehängt werden und am Ende die Kontrolle über unser Essen verlieren. Dieses Buch ist daher ein Anfang. Für eine bessere und genießbare Zukunft, in der wir souverän bleiben und »gutes, nachhaltiges und faires Essen für alle« möglich wird.
Wir wünschen guten Appetit und eine anregende Lektüre.
Berlin, Bodensee, 15. Dezember 2020
HENDRIK HAASE | OLAF DEININGER
#Abendessen mit Alexa #Satt machende Pulver aus dem Web #Wenn die DNA-App den Speiseplan bestimmt #Das Internet der Körper #Eine neue digitale Esskultur #Die kulinarische Kirche namens Instagram
»Bier vor vier« ist ein Skill von Alexa Echo . Man kann ihn auf der Website von Amazon aktivieren. Dann beantwortet der intelligente Lautsprecher die Frage, ob man heute schon ein Bier trinken kann. Das darf man – wenn es nach vier Uhr ist. Etwas komplexer ist dagegen der Skill »Noblego Zigarrenmatching«. Wer diesen Skill aktiviert, kann sich am Tisch sagen lassen, welche Zigarre zum jeweiligen Getränk im Glas passt. Auch »Superfood« ist ein Skill, den man laden kann. Dann erklärt Alexa die Vorzüge von Chia-Samen, Açaí-Beeren oder Moringa-Pulver. Vorausgesetzt man fragt. Wer dagegen wissen möchte, welcher Wein zum Essen vor einem auf dem Teller passt, kann sich ebenfalls bei Alexa erkundigen. Vorausgesetzt, er hat den Skill »Weinbegleitung« geladen.
Nicht nur die Entwickler von Apps für Sportlerernährung oder Rotwein arbeiten gerade daran, ihre Inhalte und Services auf digitalen und akustischen Plattformen wie Alexa Echo oder Siri von Apple verfügbar zu machen. Wer etwa auf der Suche nach dem perfekten Abendbrot ist, kann Alexa auch nach dem »besten Bäcker in der Nähe« fragen. Die Stimme aus der schwarzen Säule nennt dann drei Bäckereien zur Auswahl und fragt, ob sie einen »hinbringen« darf. Wer antwortet, bekommt die genaue Wegbeschreibung zum gewünschten Bäcker auf sein Smartphone gesendet. Für diese Vorschläge greift Alexa auf die Daten des Empfehlungsportals Yelp zu und auf Bing , die Suchmaschine von Microsoft.
Auch die Lebensmittelindustrie, der Lebensmitteleinzelhandel, die Systemgastronomie, Restaurantketten und viele einzelne Gastronomen möchten auf Alexa verfügbar sein.
Noch nie haben wir so viel über unsere Nahrungsmittel gewusst. Und noch nie war es so einfach, mehr über das zu erfahren, was bei uns auf den Tellern liegt. Und diese Entwicklung hat erst begonnen. Denn künftig werden wir noch mehr über unser Essen wissen – und wissen können: Herkunft, Eigenschaften, Haltbarkeit, Herstellung, Zusatzstoffe, Verarbeitung, Transportwege, Transportmittel und deren Energieverbrauch. Diese Informationen stehen dann nicht etwa erst nach langwieriger und aufwendiger Recherche zur Verfügung, son dern praktisch sofort: per Alexa , Siri, mit dem Smartphone und einer Vielzahl von Apps.
Und auch unsere Lebensmittel selbst kommunizieren heute schon zunehmend untereinander, wie wir in diesem Buch zeigen werden. Auf dem Weg vom Acker bis zum Teller, in der Lebensmittelindustrie und in der Weiterverarbeitung, auf dem Laster oder Lieferwagen, im Laden, Kühlschrank und auf dem heimischen Esstisch hinterlassen die Lebensmittel digitale Spuren, geben Daten ab, nehmen Daten auf und verarbeiten Signale. Per RFID- oder mit anderen Funk-Chips, mit digitalisierter DNA, gesteuert und überwacht von Rechenverfahren wie etwa der sogenannten Blockchain, die heute schon viele Prozesse in der Herstellungs-, Verarbeitungs- und Lieferkette begleiten, und mit Systemen, welche den Verkauf mittlerweile erstaunlich präzise vorhersagen können.
Noch nie waren Essen und Ernährung aber auch so starken »Moden« unterworfen wie heutzutage. Vegetarisch, vegan oder doch lieber Fleisch? Und noch nie war die Ernährung ein so starkes Distink tionsmerkmal, wie die Soziologen sagen.
Auch das Wissen über unseren Körper, wie er funktioniert, was ihm guttut und was nicht, welche Folgen unsere Wahl der Nahrungsmittel und Ernährungsstile für ihn haben – all dieses Wissen stand den Menschen noch nie in so großem Umfang zur Verfügung. Und: Es war noch nie so allgemein verbreitet. Know-how über richtige oder falsche Ernährung ist heute Allgemeinwissen. Und auch dafür schufen digitale Hilfsmittel die Grundlage.
Was auf den Tisch kommt, was wann gegessen und wie es bewertet wird, was sich zum Trend entwickelt und was nicht, darüber lassen heute immer mehr Menschen elektronische Hilfsmittel entscheiden: Fitness-Apps regeln den Tagesablauf und die Essenszeiten, die Wahl der Lebensmittel und die Mengen auf dem Teller. Food- Tracker entscheiden, welches Nahrungsmittel gerade am besten zur aktuellen Lebens- und Leistungsphase passt. Instagram-Kanäle von Influencern präsentieren schicke Gerichte oder kulinarische Neuentdeckungen. Und Food-Blogs erklären, wo man außerhalb der eigenen vier Wände unbedingt gegessen haben muss.
Im Jahr 2018 kaufte Amazon die Online-Apotheke PillPack. Im Sommer 2020 brachte der eCommerce-Riese das Armband Halo auf den Markt, das seine Träger rund um die Uhr beobachtet. Wie die Konkurrenzprodukte von Xiaomi, Fitbit oder die Apple-Watch misst das Armband, das zur Produktgruppe der sogenannten Wearables (steht für »kann am Körper getragen werden«) zählt, Herzfrequenz, Hauttemperatur und Schritte. Wer einen Account erstellt und nicht widerspricht, dessen Daten werden automatisch ausgewertet.
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