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In ihren Betten klingen sie alle warm und verletzlich, wie ein Rudel schlafender Wölfe. Ich erkenne jeden an der Art seines Atmens: mein Mann neben mir, die beiden Kinder nebeneinander im benachbarten Doppelbett. Am leichtesten ist das Mädchen herauszuhören, das fast schnurrt, während es ungleichmäßig am Daumen lutscht.
Ich liege im Bett und lausche ihnen. Im Zimmer ist es dunkel, das Licht vom Parkplatz umrahmt die Vorhänge mit einem whiskeygelben Schimmer. Auf dem Highway ist kein Verkehr. Wenn ich die Augen schließe, vermischen sich beunruhigende Bilder und Gedanken in meinen Augenhöhlen und ergießen sich in mein Gehirn. Mit offenen Augen versuche ich mir die Augen meines schlafenden Stamms vorzustellen. Die des Jungen sind haselnussbraun, meist verträumt und mit sanftem Blick, können aber plötzlich vor Freude oder Wut auflodern wie die meteorischen Augen von Seelen, zu groß und zu wild, um gelassen zu sein – »gelassen in die gute Nacht«. Die Augen des Mädchens sind schwarz und riesig. Wenn sie weint, werden die Ränder sofort rot. Ihre plötzlichen Stimmungsschwankungen spiegeln sich unübersehbar darin wider. Als Kind war es bei mir genauso. Heute sind meine Augen vermutlich fester, unnachgiebiger und doppeldeutiger, wenn meine Stimmung schwankt. Die Augen meines Mannes sind grau, schräg und oft unruhig. Beim Autofahren blickt er mit gerunzelter Stirn auf die Straße, als lese er ein schwieriges Buch. Dieselbe Miene setzt er bei der Arbeit auf. Ich weiß nicht, was er sieht, wenn er mir in die Augen blickt; in letzter Zeit kommt es nicht mehr oft vor.
Ich schalte die Nachttischlampe ein, lese den Roman von Nathalie Léger und unterstreiche Stellen bis tief in die Nacht:
»Gewalt, ja, aber die annehmbare Seite der Gewalt, die Art von banaler Grausamkeit, wie sie in der Familie stattfindet«
»das Summen des normalen Lebens«
»die Geschichte einer Frau, die etwas Wichtiges verloren hat, aber nicht genau weiß, was«
»eine Frau auf der Flucht oder im Untergrund, die ihren Schmerz und ihre Ablehnung verbirgt und etwas vortäuscht, um sich befreien zu können«
Ich lese immer noch, als der Junge vor Sonnenaufgang am nächsten Morgen aufwacht. Seine Schwester und sein Vater schlafen noch. Ich habe die ganze Nacht kaum geschlafen. Er tut so, als wäre er schon ewig wach oder als wäre er nie eingeschlafen und wir hätten uns zwischenzeitlich unterhalten, stützt sich auf und fragt mit lauter, klarer Stimme, was ich lese.
Ein französisches Buch, flüstere ich.
Wovon handelt es?
Eigentlich von nichts. Es geht um eine Frau, die etwas sucht.
Und was sucht sie?
Das weiß ich noch nicht; sie weiß es auch nicht.
Sind die alle so?
Wie meinst du das?
Die französischen Bücher, die du liest, sind die alle so?
Wie so?
Wie das, weiß und klein, ohne Bilder auf dem Cover.
GPS
An diesem Vormittag fahren wir durch das Shenandoah Valley, eine mir unbekannte Gegend, die mir jedoch erst gestern Abend – in kleinen Splittern und geborgten Erinnerungen – in Sally Manns Fotos begegnet ist, die sie in diesem Tal aufnahm.
Um die Kinder zu beruhigen und die elend langen Stunden auf den Straßen in die Berge zu füllen, erzählt mein Mann Geschichten über den alten amerikanischen Südwesten. Er erzählt von den Strategien, die Häuptling Cochise anwandte, um sich vor seinen Feinden in den Dragoon und Chiricahua Mountains zu verstecken, und dass er noch nach seinem Tod zurückkam, um sie heimzusuchen. Es hieß, dass man ihn selbst heute noch bei den Dos Cabezas Peaks sichte. Die Kinder hören noch aufmerksamer zu, als ihr Vater vom Leben Geronimos erzählt. Seine Worte bringen uns die Zeit näher, halten sie im Auto fest, sie erstreckt sich nicht mehr vor uns wie ein unerreichbares Ziel. Er hat ihre volle Aufmerksamkeit, und auch ich höre zu: Geronimo war der letzte Mann in Nord-. Mittel- und Südamerika, der sich den Bleichgesichtern ergab. Er wurde Medizinmann. Eigentlich war er gebürtiger Mexikaner, aber er hasste Mexikaner, die von den Apachen nakaiye genannt wurden, »jene, die kommen und gehen«. Mexikanische Soldaten hatten seine drei Kinder, seine Mutter und seine Frau getötet. Er lernte nie Englisch. Für Häuptling Cochise trat er als Dolmetscher zwischen Apachen und Spaniern auf. Geronimo war eine Art heiliger Hieronymus, sagt mein Mann.
Wieso heiliger Hieronymus? frage ich.
Er rückt seine Mütze zurecht und erklärt in langatmiger professoraler Detailverliebtheit, dass der heilige Hieronymus die Bibel ins Lateinische übersetzte, bis ich das Interesse verliere, die Kinder einschlafen und wir beide verstummen, abgelenkt von den plötzlichen Anforderungen des Verkehrs: Autobahnkreuze, Geschwindigkeitskontrollen, Bauarbeiten, gefährliche Kurven, eine Zahlstelle – hast du Kleingeld und reich mir den Kaffee.
Wir folgen einer Karte. Entgegen allen Empfehlungen beschlossen wir, kein GPS zu benutzen. Ich habe eine gute Freundin, deren Vater bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr unglücklich in einer Firma gearbeitet und dann genügend gespart hatte, um seiner wahren Leidenschaft zu folgen und sein eigenes Geschäft zu gründen. Einen Verlag, The New Frontier, der Tausende wunderschöner kleiner Seekarten herstellte, gewissenhaft und liebevoll zugeschnitten auf die Schifffahrt im Mittelmeer. Sechs Monate nach der Gründung seines Verlags wurde das GPS erfunden. Und das war’s: ein ganzes Leben futsch. Als meine Freundin mir die Geschichte erzählte, schwor ich, nie ein GPS zu benutzen. Deshalb verfahren wir uns natürlich oft, besonders wenn wir eine Stadt verlassen wollen. Gerade stellen wir fest, dass wir fast eine Stunde lang im Kreis gefahren und wieder in Front Royal gelandet sind.
STOPP
Auf einer Straße namens Happy Creek werden wir von einer Polizeistreife angehalten. Mein Mann schaltet den Motor aus, nimmt seine Mütze ab, rollt sein Fenster herunter und lächelt der Polizistin zu. Sie will Fahrerlaubnis, Zulassung und Versicherungsschein sehen. Auf dem Beifahrersitz murmele ich missmutig vor mich hin, unfähig, meine tief sitzende, unreife Reaktion auf jede Form von Maßregelung seitens einer Autoritätsperson zu zügeln. Wie ein Teenager beim Abwasch greife ich schwerfällig und genervt ins Handschuhfach, hole die verlangten Papiere heraus und klatsche sie meinem Mann in die Hand. Er wiederum überreicht sie ihr feierlich, als kredenze er ihr heißen Tee in einer Porzellantasse. Sie erklärt, wir seien angehalten worden, weil wir bei dem Stoppschild nicht richtig angehalten haben. Sie zeigt darauf – ein knallrotes achteckiges Ding, das eindeutig die Kreuzung Happy Creek Road und Dismal Hollow Road markiert und eine sehr schlichte Anweisung gibt: »Stopp.« Erst jetzt sehe ich die andere Straße, Dismal Hollow Road; der Name steht in schwarzen Großbuchstaben auf dem weißen Aluminiumschild, eine treffende Bezeichnung für den Ort, den er kennzeichnet. Mein Mann nickt immer wieder, sagt, tut mir leid, und wieder, tut mir leid. Die inzwischen von unserer Unschuld überzeugte Polizistin gibt die Papiere zurück, doch bevor wir weiterfahren dürfen, stellt sie noch eine Frage:
Und wie alt sind diese hübschen Kinder, Gott schütze sie?
Neun und fünf, antwortet mein Mann.
Zehn! verbessert ihn der Junge von hinten.
Sorry, sorry, sorry, klar, zehn und fünf.
Ich weiß, das Mädchen möchte auch etwas sagen und sich irgendwie einmischen, dazu muss ich sie gar nicht ansehen. Wahrscheinlich möchte sie erklären, dass sie bald sechs ist und nicht mehr fünf. Aber sie öffnet nicht mal den Mund. Wie mein Mann und im Gegensatz zu mir, hat sie eine lähmende, angeborene Angst vor Autoritätspersonen, eine Angst, die sich bei beiden in Form von großem Respekt bis hin zur Unterwürfigkeit zeigt. Bei mir äußert sich dieser Instinkt als trotziger Widerwille, einen Fehler einzugestehen. Mein Mann weiß das und sorgt deshalb dafür, dass ich in brenzligen Situationen den Mund halte.
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