Luzid, direkt, stringent: Noam Chomsky über das Ende des amerikanischen Traums.
Noam Chomsky gilt als der einflussreichste Intellektuelle der Vereinigten Staaten. In seinem neuen Buch befasst er sich erstmals umfassend mit dem großen Thema unserer Zeit: der sozialen Ungleichheit.
Anhand von zehn Prinzipien der Konzentration von Reichtum und Macht und mithilfe zahlreicher historischer Texte der amerikanischen Geschichte erklärt Noam Chomsky, wie der amerikanische Traum – dass jeder es mit harter Arbeit zu etwas bringen kann – in den letzten Jahrzehnten systematisch beerdigt und ein System nie da gewesener sozialer Ungleichheit errichtet wurde, von dem letztlich nur einige wenige profitieren.
Requiem für den amerikanischen Traum macht die Breite und Tiefe von Noam Chomskys Denken zugänglich wie kein anderes Buch und verdeutlicht seine überzeugenden politischen Ideen mit einer beispiellosen Direktheit. Eine Pflichtlektüre für alle, die noch Hoffnung auf eine gemeinsame, demokratische Gestaltung unserer Zukunft haben.
Noam Chomsky
REQUIEM FÜR DEN AMERIKANISCHEN TRAUM
Die 10 Prinzipien der Konzentration
von Reichtum und Macht
Herausgegeben von Peter Hutchison, Kelly Nyks und Jared P. Scott
Basierend auf dem Film Requiem für den amerikanischen Traum
Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und
Thomas Wollermann
Verlag Antje Kunstmann
Der amerikanische Traum – eine kurze Vorbemerkung
Einleitung
ERSTES PRINZIP Demokratie einschränken
Geheime Verhandlungen … im Jahr 1787 und andere Quellen
ZWEITES PRINZIP Ideologie bestimmen
Powell Memorandum und andere Quellen
DRITTES PRINZIP Wirtschaft umgestalten
Schluss mit der Konzentration auf kurzfristige Gewinne und andere Quellen
VIERTES PRINZIP Andere die Last tragen lassen
Henry Ford zur Verdoppelung des Mindestlohns und andere Quellen
FÜNFTES PRINZIP Solidarität bekämpfen
Die Theorie der ethischen Gefühle und andere Quellen
SECHSTES PRINZIP Regulierungsbehörden regulieren
Wohlstandsökonomie und andere Quellen
SIEBTES PRINZIP Wahlen manipulieren
Citizens United vs. Federal Election Commission und andere Quellen
ACHTES PRINZIP Den Pöbel im Zaum halten
Ford-Leute verprügeln und vertreiben … und andere Quellen
NEUNTES PRINZIP Zustimmung konstruieren
Über die ursprünglichen Prinzipien der Regierung und andere Quellen
ZEHNTES PRINZIP Die Bevölkerung an den Rand drängen
Theorien amerikanischer Politik auf dem Prüfstand und andere Quellen
Über den Autor
Über die Herausgeber
Quellenverzeichnis
Der amerikanische Traum – eine kurze Vorbemerkung
Die Great Depression, die schwere Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre in den USA, die ich noch selbst miterlebt habe, war eine harte Zeit – subjektiv gesehen viel härter als die heutige. Aber es herrschte das Gefühl vor, irgendwie auch wieder da rauszukommen, die Erwartung, es werde irgendwann schon wieder besser: »Heute haben wir vielleicht keine Arbeit, aber morgen ganz bestimmt, und gemeinsam können wir an einer besseren Zukunft arbeiten.« Politischer Radikalismus hatte Hochkonjunktur und nährte die Hoffnung auf eine bessere Zukunft – eine, in der mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit die repressiven Klassenstrukturen aufbrechen würden. »Irgendwie wird es vorangehen«, dachten alle.
Auch in meiner Familie gehörten viele zur Arbeiterklasse und hatten keinen Job. Aber die Gewerkschaftsbewegung war im Aufschwung, Ausdruck und Quelle von Optimismus und Hoffnung zugleich. Und das fehlt heute. »Nichts wird mehr, wie es mal war«, das ist heute die Stimmung – es ist aus und vorbei.
Wie viele Träume ist auch der amerikanische Traum zu einem nicht unerheblichen Teil ein Mythos. Im 19. Jahrhundert gehörte dazu auch der Traum vom Aufstieg, wie ihn Horatio Alger in populären Groschenromanen schilderte – »wir mögen bettelarm sein, aber wir werden hart arbeiten und es nach oben schaffen«. Bis zu einem gewissen Grad entsprach das auch der Wahrheit. Mein Vater, der 1913 aus einem ärmlichen Dorf in Osteuropa einwanderte, ist ein Beispiel dafür. Er fing in einem Ausbeuterbetrieb in Baltimore an, schaffte es irgendwann aufs College und konnte dort sogar promovieren. Schließlich führte er das Leben der sogenannten Mittelschicht. Viele andere schafften das ebenfalls. Immigranten aus Europa konnten damals einen Grad an Wohlstand, Privilegien, Freiheit und Unabhängigkeit erreichen, der in ihren Herkunftsländern undenkbar gewesen wäre.
Aber inzwischen wissen wir einfach, dass das nicht mehr gilt. Die soziale Mobilität in den USA ist geringer als in Europa. Doch der Traum, genährt durch Propaganda, besteht fort. Er ist Bestandteil sämtlicher politischer Reden: »Wählt mich, wir lassen den Traum wiederaufleben.« So oder ähnlich verkünden es alle – selbst jene, die den Traum, bewusst oder unbewusst, zerstören. Der »Traum« muss einfach fortbestehen, wie anders sollten die Menschen im reichsten und mächtigsten Land der Welt, das mit so vielen Vorzügen gesegnet ist, mit der Realität um sie herum klarkommen?
Die heutige Ungleichheit ist nahezu beispiellos, vergleichbar nur mit den schlimmsten Perioden der amerikanischen Geschichte. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sie sich aus dem extremen Reichtum eines winzigen Bruchteils der Bevölkerung ergibt, der lediglich 1 Prozent ausmacht.
Ähnliche Entwicklungen gab es zwar auch im sogenannten Vergoldeten Zeitalter, der wirtschaftlichen Blütezeit Ende des 19. Jahrhunderts und in den Roaring Twenties, den Goldenen Zwanzigern der USA, aber die heutigen Verhältnisse sind wirklich extrem. Denn wenn man sich die Verteilung des Reichtums anschaut, dann sind es vor allem die Superreichen, die für diese Ungleichheit sorgen – also das oberste Zehntel Prozent. Dies ist das Resultat eines über drei Jahrzehnte währenden Umbaus der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik. In dieser Zeit hat sich die Regierungspolitik gegen den Willen der Bevölkerung vor allem darauf verlegt, den Reichen Vorteile zu verschaffen. Die Mehrheit der Bevölkerung muss sich hingegen seit 30 Jahren mit einem mehr oder weniger stagnierenden Einkommen abfinden. Die amerikanische Mittelschicht ist unter erheblichen Druck geraten.
Ein wesentlicher Bestandteil des amerikanischen Traums ist die soziale Mobilität: Auch wer arm geboren ist, kann es durch harte Arbeit zu Wohlstand bringen. Gemeint ist damit, dass jeder einen gut bezahlten Job finden, sich ein Haus und ein Auto leisten und seinen Kindern eine Ausbildung finanzieren kann …
All das ist in sich zusammengebrochen.
Schauen wir uns die amerikanische Gesellschaft einmal an. Stellen Sie sich vor, Sie würden sie vom Mars aus betrachten. Was sehen Sie?
In den Vereinigten Staaten werden Werte wie Demokratie hochgehalten. In einer Demokratie hat die öffentliche Meinung einen gewissen Einfluss auf die Politik, und die Regierung richtet ihr Handeln am Willen der Bevölkerung aus. Das ist das Wesen von Demokratie.
Man muss allerdings wissen, dass die Demokratie in den Reihen der Privilegierten und Mächtigen nicht besonders geschätzt wird, und das aus gutem Grund. Demokratie legt die Macht in die Hände der gesamten Bevölkerung und nimmt sie den Privilegierten und Mächtigen weg. Diese aber folgen dem Prinzip der Konzentration von Reichtum und Macht.
Читать дальше