1919. Deutschland unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Aufstände. Räterepubliken. Freikorpskämpfe. Versailler Vertrag. Politischer Mord, Revanche und Nazismus: Hätte Geschichte anders verlaufen können?
Soldaten, Rückkehrer, Revolutionäre, Minister, Freikorpskämpfer, Gymnasiasten, Matrosen, Monarchisten, Vertriebene, Verliebte, Vagabunden, eine Zeitungsverkäuferin: In ihren Geschichten präsentieren sich die tausendfachen Probleme einer Zeit, die von den Explosionen des Krieges erschüttert und von der katastrophalen Niederlage geprägt ist, von Hunger, Massenelend und Kriegsgewinnlern, von fanatischem Nationalismus und sozialrevolutionären Ideen, von militärischer Gewalt und Fantasien freier Liebe.
In 1919 fließen Hunderte von Splittern, Szenen und Handlungsverläufen aus zeitgenössischen Romanen, Berichten und Aufsätzen zusammen. Ein Erzählstrom in 128 Kapiteln, der aus den Ideen und Kämpfen der Zeit schöpft, aus trivialen, völkischen, utopischen, dadaistischen, reaktionären, politischen, literarischen und fotografischen Quellen. Ein Spiel mit historischen Möglichkeiten und literarischen Figuren, imaginierten Geschichten und realen Ereignissen, kollektivem Wahn und individuellen Wirklichkeiten. Eine Fiktion, die extreme Positionen vorführt und die Widersprüche der Weimarer Republik zuspitzt, die von Kaiser Wilhelms Glück und Ende erzählt, von der Bruderschaft der Vagabunden und dem Untergang einer Flotte, von den Träumen der Kunst und der Rückkehr deutscher U-Boote.
Ein kühnes, überraschendes, ungeheuerliches Werk wider Geschichtsvergessenheit, Fatalismus und blinden Gehorsam. Ein wegweisendes Buch über ein Weltende, das eine Zukunft war.
Herbert Kapfer, 1954 in Ingolstadt geboren, ist Autor und Publizist. Von 1996 bis 2017 leitete er die Abteilung Hörspiel und Medienkunst im BR. 2017 erschienen die Bücher „Verborgene Chronik 1915–1918“ (mit Lisbeth Exner) und die Essaysammlung „sounds like hörspiel“.
Herbert Kapfer
Fiktion
Verlag Antje Kunstmann
Fiktion
aus zerschnittenen und zusammengesetzten Texten jener Zeit
von Stephan Berghoff, Karl Matthias Buschbecker, Theophil Christen,
Hermann Cordes, Joseph Delmont, Frateco, Gregor Gog,
Oskar Maria Graf, Agnes Harder, Georg Hermann,
Rudolf Herzog, Sophie Hoechstetter, Max Hoelz,
Richard Huelsenbeck, Nathanael Jünger, Arthur Kahane,
Emil Ludwig, Erich Mühsam, Gustav Noske,
Ludwig von Reuter, Hans Roselieb,
Ernst von Salomon, Werner Scheff,
Eduard Stadtler, Ernst Toller
mit einer Schwundversion des nie aufgeführten Lustspiels
10 Tage Rätefinanzminister
von Karl Polenske
einem Privattelegramm und Skandalberichten zum Stummfilm
Kaiser Wilhelms Glück und Ende
von Willy Achsel, Ferdinand Bonn und Alfred Funke
Aufnahmen von C. W. Burrows, O. Gramkow,
Adam Hofmann, Theodor Jürgensen, Hans Mehlert
und der unbekannten Fotografin
Kommentaren von Hugo Ball für Die Freie Zeitung
Abfertigungen aus dem Kleinen Briefkasten
in Franz Pfemferts Wochenschrift Die Aktion
Glossen aus dem Panoptikum des Bücherwurms
und einigen Zeilen von Heiner Müller aus späterer Zeit
I.
So sei hier eine Geschichte aus dem Jahre 1897 so wiedergegeben
wie sie damals von einem Zeugen aufgezeichnet worden ist. Dies ist der Originalbericht:
»Zu der seinerzeitigen Meldung, daß Kaiser Wilhelm II. auf einer Nordlandsfahrt eine Verletzung des Auges erlitt, und der späteren Meldung, daß Leutnant von Hahnke, als er, auf dem Zweirade an Bord spazieren fahrend, in das Meer gefallen war, nachstehende Details.
Kaiser Wilhelm hatte den Leutnant von Hahnke radfahren gesehen. Als der Kaiser den Offizier, der vom Rade sprang und sofort grüßte, bemerkte, rief er ihm zu: ›Melden Sie sich sofort beim Kommandanten zum Hausarrest.‹ Darauf entfernte sich der Kaiser, auf die Kommandobrücke zuschreitend. Leutnant von Hahnke schritt hinter dem Kaiser, um dem Befehl nachzukommen und sich beim Kommandanten zu melden. Der Kaiser, welcher bemerkte, daß der Offizier hinter ihm schritt, kehrte sich um und rief: ›Warum gehen Sie hinter mir? Sie sind unwürdig, dahin zu treten, wo mein Fuß schreitet.‹ Der Leutnant wurde durch diese Worte ungemein erregt: das Blut schoß ihm in die Wangen, und er rief: ›Eure Majestät, mein Adel ist so alt wie der Ihre, und ich muß mich nicht von Eurer Majestät beleidigen lassen.‹ – Kaiser Wilhelm, der bereits einige Stufen zur Kommandobrücke emporgestiegen war, schrie ihn laut an: ›Unwürdiger Bengel, ich reiße dir die Epauletten herab und lasse deinen Degen zerbrechen.‹ – Kaum hatte Kaiser Wilhelm diese Worte Hahnke zugedonnert, konnte letzterer seiner Erregung nicht mehr Herr werden und rief: ›Was, ich bin ein unwürdiger Bengel?‹ Er sprang auf den Kaiser zu, stürzte sich auf ihn, erfaßte ihn mit einer Hand beim Genick und versetzte ihm mit der zweiten Hand einen Schlag ins Gesicht, direkt in das Auge, so daß das Blut sofort hervorstürzte. Der aufs höchste erregte Offizier wurde bald darauf durch herbeistürmende Seeleute vom Kaiser getrennt und abgeführt. Der Kaiser forderte hierauf den Schiffskommandanten auf, sofort ein Militärgericht einzuberufen, aber dem Kommandanten gelang es, die Angelegenheit in die Länge zu ziehen. In der Nacht öffnete sich plötzlich die Kabine, in welcher Leutnant von Hahnke inhaftiert war, und von diesem Augenblicke – verschwand von Hahnke überhaupt. Man glaubte auf dem Schiff, daß von Hahnke Gelegenheit gegeben worden war, durch .. Selbstmord dem Militärgericht zuvorzukommen, welches gewiß auf Todesstrafe erkannt hätte und welches nicht hätte verschwiegen werden können. Allen an Bord Befindlichen ist strengste Geheimhaltung dieses Vorfalls anbefohlen worden …«
1897. Der Bericht sagt nichts darüber, ob Wilhelm II. sich für seinen Sieg über von Hahnke einen Extraorden verliehen hat.
Bekanntlich gilt der liebe Gott als der persönliche Autor des Alten Testaments. Diese Hypothese kann vor der Textkritik wohl kaum standhalten. Es ist, zu seiner Allweisheit, Allgegenwart und Allgüte auch Alltalent vorausgesetzt, unmöglich, daß der liebe Gott so ungleichmäßig arbeitet und solche Verschiedenheiten der Handschrift, ja solche Niveauschwankungen der Begabung aufweist. Es ist unmöglich, daß ein und derselbe Autor zugleich der Frauenkenner, der Eva und Delila decouvriert, und der Nichtsalsjurist sein soll, der Levitikus und Deuteronomium formuliert hat.
Der liebe Gott gilt aber nicht bloß als der anonyme Verfasser, sondern ist auch der eigentliche Held des Alten Testaments. So daß dieses Buch sozusagen als Autobiographie, als Selbstbekenntnis und Selbstdarstellung anzusehen ist; als Ich-Roman in der dritten Person geschrieben. Tatsächlich geht die Figur durch, spielt die größte Rolle und verschwindet nie vom Schauplatz. Trotzdem ist es eigentlich kein aktiver Held, sondern mehr ein zuschauender, beobachtender, der immer über der Situation steht, es vorzieht, unsichtbar zu bleiben und der nur ab und zu von oben her in die Handlung einzugreifen scheint. Es geht ihm wie jedem Autor, er hat die Welt verfaßt, aber dann hat sie sich selbständig gemacht, wie das Werk jedes Dichters, und lebt auf eigenen Füßen weiter: der Autor sieht kopfschüttelnd zu, versteht sein eigenes Werk nicht mehr und nur, wenn’s ihm gar zu bunt wird, erinnert er sich, daß er ja nicht bloß der Verfasser, sondern auch die Hauptperson ist und greift mit einem heiligen Donnerwetter über Sodom und Gomorrha mit einer Sintflut oder einem Weltkrieg ein.
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