Zum Buch
Der Winter ist vorbei und damit die Zeit, die die Kinder im Haus verbringen müssen, weil es draußen bitterkalt ist, hoch im Norden Kanadas, am Rande des Eismeers. Im Frühling haben die Kinder das Städtchen in der Hand, streunen auf der Suche nach Abenteuern durch die Straßen und durch die Tundra. Nach so wilden Abenteuern, dass sie dabei sogar das Leben riskieren. Die Erwachsenen sind mit eigenen Problemen beschäftigt und können keinen Halt bieten. Im Gegenteil. Tanya Tagaq erzählt in diesem atemberaubenden Debüt von der Kindheit und Jugend eines Mädchens in der Arktis: von einer übermächtigen Natur, von den allgegenwärtigen Füchsen, den majestätischen Polarbären und den Mythen der Inuit. Unter den furchterregenden und verzaubernden Polarlichtern verschwimmen für das Mädchen die Grenzen zwischen Mensch und Natur, Zeit und Raum, und sie begibt sich auf eine verstörend sinnliche Selbstsuche, um die Wunden zu heilen, an denen in einer sich auflösenden Gemeinschaft alle tragen.
»Tagaq überträgt die endlose Schönheit, Intensität und Trostlosigkeit der Arktis in eine aufwühlende, moderne Erzählung mythologischen Ausmaßes.«
THE NEW YORKER
Über die Autorin
Tanya Tagaq wurde 1975 in Cambridge Bay im heutigen Nunavut, Kanada, geboren. Als Performerin, Komponistin und Sängerin wurde sie mit ihren preisgekrönten Alben »Animism« und »Retribution« international bekannt. »Eisfuchs« ist ihr belletristisches Debüt.
TANYA TAGAQ
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger
Illustrationen von Jaime Hernandez
Verlag Antje Kunstmann
Der Verlag dankt dem Canada Council for the Arts und dem Canadian Department of Foreign Affairs and International Trade für die Förderung der Übersetzung.
© der deutschen Ausgabe: Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2020
© Originalausgabe: Tanya Tagaq 2018,
erschienen unter dem Titel »Split Tooth« bei Penguin Canada, einem
Unternehmen der Penguin Random House Canada Ltd.,
vermittelt durch Liepman AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Jennifer Griffiths
eBook-Produktion: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH
ISBN 978-3-95614-371-7
Für die verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen Kanadas, und für die Überlebenden der Residential Schools.
»Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen in seinem Herzen birgt, dessen Lippen aber so geformt sind, dass, indem der Seufzer und der Schrei über sie ausströmen, sie klingen wie eine schöne Musik … Und die Menschen scharen sich um den Dichter und sagen zu ihm: Singe bald wieder; das heißt: möchten doch neue Leiden deine Seele martern, und möchten doch die Lippen so geformt bleiben wie bisher; denn der Schrei würde uns nur ängstigen, die Musik aber, die ist lieblich.«
Søren Kierkegaard, Entweder – Oder
1975
MANCHMAL, wenn die Betrunkenen aus der Kneipe nach Hause kamen, versteckten wir uns im Schrank. Knie an Knie saßen wir in unserem Versteck und hofften, dass uns niemand finden würde. Jedes Mal war etwas anderes los. Manchmal war nur Gepolter zu hören, Schreien, Stöhnen, Gelächter. Manchmal kam die alte Frau herein und umarmte uns mit ihrer erdrückenden Liebe, einer Liebe, die wie eine schwere Bürde auf ihr lastete. Schon damals wusste ich, dass Liebe ein Fluch sein kann. Vor lauter Liebe zu uns musste sie weinen. Die Vergangenheit ergoss sich wie ein Fluss aus ihren Augen. Ihr giftiger Alkoholatem erfüllte das Zimmer. Schluchzend griff sie nach uns, küsste uns, küsste das Einzige, dem sie vertrauen konnte.
Wandpaneele aus Holzimitat, der Geruch von Rauch und Fisch. Samtbilder, meist Elvis oder Jesus, aber auch Eisbären und Eskimos.
Eines Abends kamen die Betrunkenen nach Hause und randalierten lauter als sonst, also stiegen wir wieder in den Kleiderschrank. Wir kichern nervös, als das Schreien anfängt. Werden still, als das Gepolter losgeht. Das ganze Haus wackelt. Frauen kreischen, werden aber vom Radau zerbrechender Gegenstände übertönt. Nasses Klatschen von platzender Haut, trockenes Knacken von splitterndem Holz, oder sind das Knochen?
Stille.
Schwere Schritte nähern sich. Scheiße! Jemand kommt auf unser Versteck zu. Wir halten den Atem an. Mit weit aufgerissenen Augen kauern wir in der Dunkelheit, zittern und hoffen auf das Beste. Jemand steht direkt vor dem Schrank und keucht.
Die Schranktür wird aufgeschoben, und mein Onkel steckt den Kopf herein. Ein Riese, der schwankt und lallt. Aus einer Wunde über dem Haaransatz fließt ihm Blut über das Gesicht.
»Ich wollte euch nur sagen, ihr braucht keine Angst zu haben, Kinder.«
Dann macht er die Tür wieder zu.
EIN TAG IM LEBEN
Neun Uhr morgens, bin viel zu spät
Die fünfte Klasse ist hart
Steige hektisch in die Hosen
Vergesse das Zähneputzen
Hab Angst vor der großen Pause
Die Jungs jagen uns und drücken uns zu Boden
Begrapschen unsere Muschis und nicht vorhandenen Brüste
Ich will gemocht werden
Wahrscheinlich muss ich das mögen
Zurück ins Klassenzimmer
Der Lehrer bohrt seine Finger in meinen Slip
Unter dem Tisch
Er sieht sich um und tut so, als wäre nichts
Ich tue, als wäre nichts
Er geht zum nächsten Mädchen, plötzlich bin ich eifersüchtig
Die Luft wird dünner und schmeckt nach Verwesung
Die Schule ist aus
Ich gehe zur Spielhalle
Obacht vor dem alten Walross
Der Alte fasst gern kleinen Mädchen an die Muschi
Wir versuchen uns fernzuhalten
Möchte wissen, warum ihn niemand rauswirft
Zu Hause läuft es jetzt besser
Herzbube mit zwei Damen und keine dicke Luft
Archie -Comics und Lego
Gutenacht
DIE GERÜCHE, die von der Frühlingsschmelze freigesetzt werden, entfachen in uns eine fieberhafte Gier nach Bewegung. Die Luft ist so sauber, dass man den Unterschied zwischen glattem und bröseligem Fels riechen kann. Man riecht das über hellen Schiefer fließende Wasser.
Flechten haben einen süßen Geruch. Die grünen Flechten riechen anders als die schwarzen. Im Frühjahr riecht man, was im vergangenen Herbst gestorben, was in diesem Jahr gewachsen ist; die älteren Flechten zeigen den jungen, wie das Wachsen geht.
Der Frost bringt alles zum Stillstand, Leben und Zeit. Das Tauwetter bringt es wieder zum Fließen. Man riecht die Schritte vom letzten Herbst und die einsetzende Verwesung von allem, was in den Klauen des Winters umgekommen ist. Durch die Erderwärmung kommen die tieferliegenden Gerüche an die Oberfläche und entlocken dem Permafrost seine Geschichten. Wer weiß, welche Erinnerungen tief im Eis begraben liegen? Welche Flüche? Das Flüstern der Erde zurück in die Atmosphäre zu entlassen, kann nur Unheil bringen.
Die ersten grünen Sprösslinge schieben sich zaghaft durch die Eisdecke. Die Rufe der Zugvögel sind wie ein Wecker, der uns aus der Winterstarre reißt. Das Leben ist wieder da! Widerwillig zieht sich das Eis zurück und droht: In ein paar Wochen komme ich wieder und räche mich. Der Winter gewinnt immer. Die Sonne verspottet ihn. Nichts kann die Kakofonie aus Völlerei und Fortpflanzung stoppen, die jetzt loslegt.
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