Mehrere Tage lang experimentierten die Wissenschaftler fieberhaft, dann zeichnete sich eine Erklärung ab. Von einem gewissen Alter an (sechs Monate bei Mäusen, was einem Alter von 50 Jahren bei Menschen entspricht) wird der Abwehrmechanismus schwächer. Bei den Labormäusen entwickelten sich zunächst Krebszellen, was den geschwollenen Bauch und die Flüssigkeitsansammlung erklärt. Doch etwa zwei Wochen später (ein oder zwei Jahre nach menschlichem Maßstab) aktivierte der vorhandene Tumor die Abwehrkräfte des Körpers. Der Tumor verkleinerte sich praktisch von einer Minute auf die andere und war nach weniger als 24 Stunden verschwunden (ein bis zwei Monate bei einem Menschen). Die Mäuse waren wieder so aktiv wie zuvor, auch in ihrem Sexualleben. Zum ersten Mal hatte die Wissenschaft ein Versuchsmodell für eine Spontanremission bei Krebs, das beliebig wiederholt werden konnte. 8Allerdings musste man noch die Mechanismen dieser mysteriösen Rückbildung erklären. Schließlich gelang es Mark S. Miller, einem Kollegen Zheng Cuis und Spezialisten für die das Geheimnis zu lüften.
Mark Miller untersuchte unter dem Mikroskop Proben der S-180-Zellen, die aus der Bauchhöhle der Wundermäuse stammten, und entdeckte ein regelrechtes Schlachtfeld. Statt der üblichen Krebszellen – rund, mit haarähnlichen Zellfortsätzen und aggressiv – sah er glatte Zellen, deren Oberfläche eingedellt und voller Löcher war. Sie kämpften mit den weißen Blutkörperchen des Immunsystems, unter anderem auch mit den berühmten natürlichen Killerzellen, den sogenannten NK-Zellen. Mark Miller konnte mit seinem Videomikroskop sogar Aufnahmen davon machen, wie die weißen Blutkörperchen die S-180-Zellen angriffen. Er hatte die Lösung des Rätsels gefunden. Die resistenten Mäuse konnten mit Hilfe ihres Immunsystems eine starke Abwehr mobilisieren, selbst wenn sich der Krebs schon eingenistet hatte. 9
Spezialagenten gegen den Krebs
Natürliche Killerzellen (NK) sind Spezialagenten des Immunsystems. Wie alle weißen Blutkörperchen zirkulieren sie im Blutkreislauf und suchen ständig nach Bakterien, Viren oder neuen Krebszellen. Aber im Gegensatz zu anderen Zellen des Immunsystems müssen NK-Zellen nicht erst durch Krankheitserreger aktiviert werden, um sie zu bekämpfen. Sobald sie einen Feind erkennen, sammeln sie sich um den Eindringling und suchen den Kontakt von Membran zu Membran. Dann zielen sie auf ihr Opfer, ähnlich wie ein Panzergeschütz. Die »Munition« besteht aus mit Gift gefüllten Bläschen, den Vesicula.
Beim Kontakt mit der Membran der Krebszelle werden die Vesicula freigesetzt, und die chemischen Waffen der NK-Zellen ( Perforin und Granzyme ) durchdringen die Membran. Die Moleküle des Perforins haben eine ringförmige Struktur und bilden so eine Röhre, durch die die Granzyme in die Krebszelle eindringen können. Im Kern der Krebszelle aktivieren die Granzyme dann einen Mechanismus zur programmierten Selbstzerstörung – als würden sie der Krebszelle den Befehl zum Selbstmord geben. Diesem Befehl kann sich die Krebszelle nicht widersetzen, der Zellkern zerfällt, und das führt zum Zusammenbruch der Krebszelle. Die Zellreste werden von Makrophagen (Fresszellen) beseitigt, den Müllmännern des Immunsystems, die stets im Gefolge der NK-Zellen zu finden sind. 10, 11
Wie die Immunzellen von Zheng Cuis resistenten Mäusen sind menschliche NK-Zellen in der Lage, verschiedene Formen von Krebszellen zu töten, vor allem Sarkomzellen und die Zellen von Brust-, Prostata-, Lungen- und Darmkrebs. 12
Eine Studie an 77 Frauen mit Brustkrebs, die über einen Zeitraum von zwölf Jahren durchgeführt wurde, hat gezeigt, wie wichtig diese Zellen für die Behandlung sind. Zunächst entnahm man den Frauen zum Zeitpunkt der Diagnose Gewebeproben des Tumors und kultivierte diese mit ihren eigenen NK-Zellen. Die NK-Zellen bestimmter Patientinnen reagierten nicht; es war, als ob ihre natürliche Vitalität auf mysteriöse Weise beeinträchtigt wäre. Die NK-Zellen anderer Patientinnen gingen dagegen vehement gegen die Krebszellen vor, was auf ein aktives Immunsystem hinweist. Zwölf Jahre später, am Ende der Studie, war knapp die Hälfte (47 Prozent) der Patientinnen, deren NK-Zellen im Labor nicht reagiert hatten, gestorben. Von denjenigen, deren Immunsystem sich unter dem Mikroskop aktiv gezeigt hatte, lebten dagegen noch 95 Prozent. 13
Andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen: Je weniger aktiv die NK-Zellen und andere weiße Blutkörperchen unter dem Mikroskop waren, desto schneller schritt der Krebs voran und breitete sich in Form von Metastasen im ganzen Körper aus. 14Auch die Überlebensraten elf Jahre später waren deutlich geringer. 15Aktive Immunzellen spielen demnach offenbar eine wichtige Rolle dabei, das Tumorwachstum und die Metastasenbildung zu hemmen. 16, 17
Den Krebs in Schach halten
Mary-Ann, eine Schottin, die gar keinen Krebs hatte, musste auf grausame Weise erfahren, welche Rolle das Immunsystem dabei spielt, die Tumorbildung im Körper zu verhindern. Sie litt unter Niereninsuffizienz, einer schweren Krankheit, bei der die Nieren das Blut nicht mehr filtern können. Dadurch sammeln sich Giftstoffe im Körper an, weshalb der Betroffene mehrmals in der Woche zur Dialyse gehen muss. Doch Mary-Ann bekam eine Spenderniere und konnte nach der Transplantation ein Jahr lang ein fast normales Leben führen. Die einzige Einschränkung bestand darin, dass sie täglich Medikamente zur Unterdrückung ihres Immunsystems einnehmen musste, die verhinderten, dass ihr Körper die transplantierte Niere als fremdes Organ abstieß. Anderthalb Jahre nach der Transplantation hatte sie stechende Schmerzen im Bereich der Niere, außerdem wurde bei einer Routinemammografie ein Knoten in ihrer linken Brust entdeckt. Die Biopsie ergab, dass es sich um Metastasen eines Melanoms handelte, eines bösartigen Hautkrebses. Allerdings hatte Mary-Ann keinen Hautkrebs, von dem die Metastasen stammen konnten. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Auch die Dermatologin Rona Mac Kie, die von den Chirurgen hinzugezogen wurde, konnte diesen mysteriösen Fall eines Phantommelanoms nicht erklären. II Es wurde alles getan, um Mary-Ann zu helfen. Die Immunsuppressiva wurden abgesetzt, die kranke Niere entfernt. Aber es war zu spät. Sechs Monate später starb sie an den Folgen eines Melanoms, dessen Ursprung im Dunkeln blieb.
Kurz darauf entwickelte George, ein zweiter Patient, der im selben Krankenhaus eine Nierentransplantation erhalten hatte, ebenfalls ein metastasierendes Melanom ohne Primärtumor. Dieses Mal konnte Dr. MacKie nicht an einen simplen Zufall glauben oder geheimnisvolle Vorgänge im Körper dafür verantwortlich machen. Mit Hilfe eines Registers für transplantierte Organe verfolgte sie die beiden Nieren zurück zur Spenderin. Der Gesundheitszustand der Spenderin hatte den üblichen Anforderungen entsprochen: keine Hepatitis, kein HIV und natürlich kein Krebs. Aber Rona MacKie blieb hartnäckig und stieß schließlich in einer schottischen Datenbank für Patienten mit einem Melanom auf den Namen der Spenderin. 18 Jahre zuvor war die Spenderin operiert worden, man hatte einen winzigen Hauttumor entfernt, der gerade einmal 2,6 Millimeter maß. Anschließend wurde ihr Gesundheitszustand 15 Jahre lang von einer Spezialklinik für Hautkrebs kontrolliert. Schließlich war sie ein Jahr vor ihrem tödlichen Unfall, der mit der alten, überwundenen Krebserkrankung nichts zu tun hatte, als »vollständig geheilt« eingestuft worden. In den Organen der Patientin, die nach bestem Wissen und Gewissen als »frei von Krebs« galt, hatten sich immer noch winzige Tumoren befunden, doch ihr Immunsystem hatte sie in Schach gehalten. Bei der Transplantation gelangten die Mikrotumoren in neue Körper (die von George und Mary-Ann), deren Immunsysteme absichtlich unterdrückt worden waren, damit die transplantierten Nieren nicht abgestoßen wurden. Ohne ein normal funktionierendes Immunsystem konnten sich die Mikrotumoren schnell entwickeln und ausbreiten.
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