Unter bestimmten Bedingungen werden die marodierenden Krebszellen gestört und verlieren ihre Virulenz: 1. wenn das Immunsystem gegen sie mobil macht; 2. wenn der Körper sich weigert, die Entzündung zu produzieren, ohne die sie weder wachsen noch in neue Gebiete vordringen können; oder 3. wenn die Blutgefäße sich nicht vermehren und nicht die Versorgung leisten, die ein Tumor zur Entwicklung braucht. Diese Mechanismen kann man unterstützen und so verhindern, dass sich die Krankheit im Körper einnistet. Wenn sich ein Tumor erst einmal gebildet hat, kann allerdings keiner dieser natürlichen Abwehrmechanismen eine Chemotherapie oder Bestrahlung ersetzen. In Verbindung mit konventionellen Behandlungsmethoden kann man jedoch mit Hilfe dieser Mechanismen die Widerstandskraft des Körpers gegen Krebs mobilisieren.
Teil 1
Die Wächter des Körpers: Starke Immunzellen
Die verheerende Kraft der S-180-Zellen
Von allen Krebszellkulturen, die in der Forschung verwendet werden, sind die S-180-Zellen (Sarkom 180) besonders virulent. Sie stammen ursprünglich von einer einzelnen Maus aus einem Schweizer Labor, werden aber heute in großer Zahl gezüchtet und weltweit zur Untersuchung von Krebs unter identischen Bedingungen eingesetzt. Sie sind stark anomal und haben eine ungewöhnliche Chromosomenzahl. Zudem scheiden sie große Mengen an Cytokinen aus, giftige Substanzen, die beim Kontakt mit anderen Zellen deren Hülle zerstören. Wenn einer Maus S-180-Zellen injiziert werden, vermehren sich diese so schnell, dass sich die Tumormasse alle zehn Stunden verdoppelt. Sie dringen in das umliegende Gewebe ein und zerstören alles, was ihnen in die Quere kommt. In der Bauchhöhle blockiert ihr Wachstum schnell die Abflüsse des Lymphsystems. Wie in einer Badewanne mit verstopftem Abfluss sammelt sich Flüssigkeit in der Bauchhöhle, das sogenannte Bauchwasser oder Aszites. Die helle Flüssigkeit bietet für die S-180-Zellen ideale Wachstumsbedingungen, und sie vermehren sich in gefährlichem Maß weiter, bis ein lebenswichtiges Organ versagt oder ein Blutgefäß platzt und der Organismus stirbt.
Die Maus, die resistent gegen Krebs ist
Zheng Cui (sprich »Dschang Tsui«), Professor für Biologie an der Wake Forest University in North Carolina, untersuchte in seinem Labor nicht Krebs, sondern den Stoffwechsel von Fettsäuren. Für seine Experimente benötigte er Antikörper, und um diese zu bekommen, spritzte er Mäusen die berühmten S-180-Zellen. Die injizierten Zellen bewirkten die Ansammlung von Bauchwasser, dem man leicht Antikörper entnehmen konnte. Von den Mäusen, denen mehrere Tausend S-180-Zellen gespritzt wurden, lebte keine länger als einen Monat, daher erforderte dieses Verfahren eine ständige Erneuerung des Mäusebestands. Bis eines Tages etwas Merkwürdiges geschah.
In diesem Buch und vor allem in diesem Kapitel ist von zahlreichen Versuchen die Rede, die an Labormäusen oder -ratten durch geführt wurden. Ich liebe Tiere und denke nicht gern daran, dass sie bei diesen Experimenten leiden müssen. Aber bislang haben weder Tierschutzorganisationen noch Wissenschaftler zufriedenstellende Alternativen für diese Experimente gefunden. Und dank der Experimente wird man viele Kinder, Männer und Frauen eines Tages effektiver und schonender behandeln können. Auch Tiere werden davon profitieren, da auch sie Krebs bekommen.
Eine junge Forschungsassistentin, Dr. Liya Qin (sprich »Tschin«), hatte einer Mäusegruppe die übliche Dosis von 200.000 S-180-Zellen injiziert. Doch eine Maus, Maus Nr. 6, reagierte nicht auf die Injektion, der Bauch des Mäuserichs blieb flach. Liya Qin wiederholte die Injektion, wieder ohne Erfolg. Auf Anraten Zheng Cuis, der ihre Forschung überwachte, verdoppelte sie die Dosis, aber es zeigte sich nach wie vor keine Wirkung. Daraufhin injizierte sie die zehnfache Dosis, also zwei Millionen Zellen. Zu ihrer großen Verwunderung entwickelte die Maus immer noch keinen Krebs und hatte auch keine Flüssigkeitsansammlung in der Bauchhöhle. Zheng Cui begann an der Befähigung seiner Assistentin zu zweifeln und beschloss, der Maus selbst eine Spritze zu verabreichen. Sicherheitshalber injizierte er 20 Millionen Krebszellen und vergewisserte sich, dass die Flüssigkeit auch wirklich in die Bauchhöhle gelangte. Zwei Wochen später war immer noch nichts zu sehen! Er versuchte es mit 200 Millionen Zellen – das Tausendfache der üblichen Dosis –, aber es tat sich weiterhin nichts.
Keine Maus im Labor hatte nach der Injektion von S-180-Zellen länger als zwei Monate gelebt. Maus Nr. 6 lebte nun bereits acht Monate, trotz der astronomisch hohen Dosen, die direkt in die Bauchhöhle gespritzt worden waren, weil sich die Krebszellen dort normalerweise am schnellsten vermehren. In Professor Zheng Cui keimte der Gedanke, ob er vielleicht das Unmögliche vor sich hatte – eine Maus, die resistent war gegen Krebs?
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurde in der medizinischen und naturwissenschaftlichen Literatur immer wieder von Patienten berichtet, deren Krebserkrankung sich plötzlich zurückbildete und schließlich ganz verschwand, obwohl sie als unheilbar diagnostiziert worden war. 1–7Doch solche Fälle sind extrem selten, und sie lassen sich nur schwer untersuchen, weil sie unvorhersehbar sind und nicht nach Belieben wiederholt werden können. Normalerweise erklärt man sie mit einer Fehldiagnose (»wahrscheinlich war es gar nicht Krebs«) oder mit einer verspäteten Reaktion auf eine frühere konventionelle Behandlung (»wahrscheinlich hat die Chemotherapie vom letzten Jahr doch noch gewirkt«).
Ehrlicherweise muss man bei diesen ungeklärten Remissionen jedoch einräumen, dass hier Mechanismen am Werk sind, die wir zwar noch nicht verstehen, die aber dem Wachstum der Krebszellen entgegenwirken. In den letzten zehn Jahren wurde ein Teil dieser Mechanismen entdeckt und im Labor untersucht. Professor Zheng Cuis Maus Nr. 6 brachte einen Mechanismus ans Licht: die Kraft des Immunsystems, wenn es vollständig mobilisiert wird.
Nachdem Zheng Cui überzeugt war, dass die berühmte Maus (mittlerweile bekannt als »Mighty Mouse« oder »Supermaus«) resistent gegen Krebs war, tauchte eine neue Sorge auf. Es gab nur eine Supermaus, und eine Maus wird höchstens zwei Jahre alt. Wenn aber die Maus starb, wie konnte man dann ihre außergewöhnlichen Eigenschaften untersuchen? Und was, wenn sie sich einen Virus oder eine Lungenentzündung zuzog? Zheng Cui dachte darüber nach, die DNA der Maus zu konservieren oder die Maus zu klonen, denn kurz zuvor waren die ersten Mäuse erfolgreich geklont worden. Dann fragte ein Kollege: »Hast du schon daran gedacht, mit der Maus zu züchten?«
Abbildung 1: die »Supermaus«, Maus Nr. 6, die resistent gegen Krebs ist. Mit freundlicher Genehmigung von Zheng Cui, Wake Forest University.
Tatsächlich hatte der Supermäuserich nicht nur zahlreiche Nachkommen (mit einem normalen, nicht resistenten Weibchen), sondern vererbte auch der Hälfte seiner Enkel die Resistenz gegen S-180-Zellen. I Wie ihr Großvater verkrafteten die Mäuse zwei Millionen S-180-Zellen, eine Dosis, die im Labor mittlerweile völlig normal wirkte, ohne dass sie krank wurden. Sie tolerierten sogar zwei Milliarden S-180-Zellen, obwohl diese 10 Prozent ihres Körpergewichts ausmachten – bei einem Menschen würde das bedeuten, dass man ihm 6 bis 8 Kilo ultravirulente Tumormasse injiziert.
Der geheimnisvolle Mechanismus
Nun kam es, dass Professor Zheng Cui dem Labor aufgrund eines Forschungsurlaubs mehrere Monate lang fernbleiben musste. Als er nach seiner Rückkehr die Experimente mit den resistenten Mäusen wieder aufnahm, erwartete ihn eine herbe Enttäuschung. Zwei Wochen nach der normalen Injektion entwickelten alle Mäuse Bauchwasser und Tumore. Ausnahmslos alle. Was war passiert? Hatten sie während seiner Abwesenheit ihre Resistenz eingebüßt? Tagelang grübelte er über diesen Rückschlag und fragte sich, was er falsch gemacht hatte. Vielleicht war die »Entdeckung« auch einfach zu schön, um wahr zu sein, wie es ihm die meisten Kollegen prophezeit hatten. Er war so enttäuscht, dass er nicht mehr nach den Mäusen sah. Vier Wochen nach den Injektionen lagen sie wahrscheinlich alle im Sterben. Als er schließlich doch ins Labor zurückkehrte und schweren Herzens die Abdeckung eines Käfigs hob, blieb er wie erstarrt stehen: Die Mäuse waren eindeutig am Leben, und der Aszites war verschwunden.
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