… Gefühl der
Inauthentizität …
Zu sagen, dass er überhaupt keine Handlung als die seine erlebt, wäre natürlich etwas übertrieben. Es gibt Ausnahmen, nämlich die willkürlichen, launenhaften Handlungen. Diese jedoch betrachtet er als die seinigen genau deshalb, weil sie keine Grundlage zu haben scheinen. (Natürlich haben sie objektiv gesehen wahrscheinlich ihre Gründe, aber uns geht es nun um sein Erleben.) Das zeigt seinen Selbsthass noch einmal aus einer anderen Perspektive. Bedenken wir, dass er nur seine willkürlichen Handlungen für sich beansprucht und sich von all denen mit echten Motiven distanziert. Das bedeutet, dass er sich auf vernünftige Taten nie etwas zugute hält, sondern nur für verrückte, zweckfreie Verantwortung übernimmt. Wenn man die Handlungen, die man sich auflädt, auf diese Weise aussucht, muss die Last einen in die Knie zwingen.
Aber seine Selbstwahrnehmung ist noch komplexer und lehrreicher. Sie ist zutiefst ambivalent oder, genauer gesagt, sie kippt von einem Extrem ins andere. Und auch dieser Aspekt des Syndroms lässt sich durch den Ort erklären, an dem die Grenze zwischen dem Akzeptierten und dem Abgespaltenen gezogen wird. Eine ausführlichere Beschreibung der komplizierten Struktur, die seinen Anfällen von Selbstbeschimpfung zugrunde liegt, müsste bei dem Paradox seines monströsen Größenwahns beginnen. Karen Horney hat einmal gesagt, dass der Neurotiker sich selbst als Gott betrachtet, und etwas Ähnliches muss vorliegen, wenn das Selbst sich mit einem „Großen Subjekt“ identifiziert, das alle Erfahrung beobachtet. Wenn nämlich das „wahre Selbst“ nur der ungreifbare, postulierte Punkt ist, von dem aus das Erleben gesehen wird, dann kann keine Schwäche und kein Versagen im eigenen Verhalten je dieses Selbst modifizieren oder beflecken. Nichts kann es je zwingen, aus seiner Höhe herabzusteigen, und so bleibt es gottgleich und unantastbar. Die Gesamtheit der eigenen konkreten, ungelösten Existenz verbindet sich nicht mit der unbefleckten Essenz des eigenen Wesens. Sie wird als missgestaltete und trügerische Hülle abgetan, während der Kern unschuldig und makellos bleibt. Und dennoch steht ihm genau diese Makellosigkeit unausweichlich als alles übersteigender und hoffnungslos hoher Maßstab gegenüber. Weil seine Erfahrung sein eigentliches Selbst nie befriedigt, bleiben dessen Ansprüche absolut, und daraus entsteht sein Selbstekel. In den Stunden, in denen er sich selbst nicht genügend erniedrigen kann, hält er die Realität seiner alltäglichen Erfahrung gegen diesen unmenschlichen Maßstab, und dann findet er sich selbst natürlich so minderwertig, dass er sich wie eine „Maus“ oder bloßes „Ungeziefer“ vorkommt. Die Momente, in denen das Pendel in die andere Richtung schwingt, wenn er von den Höhen seiner wahnwitzigen Arroganz auf die anderen herabsieht, stellen in dieser Interpretation nur die Kehrseite desselben Musters dar: In ihnen vergleicht er nicht sich selbst, sondern andere mit seinem absoluten und sakrosankten „wirklichen“ Selbst.
… Neurotisches extremes Schwanken zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühlen
Andere Muster der Identifikation und ihnen entsprechende Lebensgefühle
Minimal-Identifikation und ihre Konsequenzen: Aggression …
Obwohl sich dem noch leicht andere Merkmale hinzufügen ließen, sollte dies genügen, um das generelle Muster zu skizzieren, das solch eine „Rühr mich nicht an“-Identität mit sich bringt. Es geht um die Logik eines Typus und nicht um ein spezielles Beispiel im Besonderen. Dass es dabei Übereinstimmungen mit Dostojewskijs Untergrundmensch gibt, ist uns natürlich willkommene Bestätigung, aber nichts könnte uns ferner liegen als die Idee, dass Dostojewskji die Krankengeschichte eines sich nicht identifizierenden Individuums geschrieben habe. Die Zusammenhänge, die wir verfolgt haben, sollen einen Idealtypus im Sinne Max Webers darstellen: Sie sollen empirische Beispiele erhellen, aber es wird davon ausgegangen, dass alle Realität – und alle Literatur – mehr ist als die Verkörperung abstrakter Muster.
Identifikation mit der Vernunft
Entsprechende Strukturen ließen sich für alle anderen möglichen Identifikationen entwickeln. Im Falle einer Identifikation mit der Vernunft könnte man wieder näher auf die Auswahl der Handlungen eingehen, für die Verantwortung übernommen wird. Wenn diese Identität gegeben ist, hält man sich alle vernünftigen, sorgsam ausgeführten Handlungen zugute, während man sich von den weniger schmeichelhaften distanziert. Die Dynamik verläuft also genau in die entgegengesetzte Richtung: Wir haben gesehen, dass die Identifikation mit dem Punkt-Subjekt das eigene Selbstwertgefühl entweder abwärts treibt oder in einen sich stetig vergrößernden Zwiespalt. Glaubt man jedoch, dass die eigenen schlechten oder irrationalen Handlungen nicht ganz zu einem gehören, dann würde dies offensichtlich einen Aufwärts-Schub bringen. Dessen nützliche Effekte würden sich auf den sozialen Organismus ausweiten, denn vom kulturellen Standpunkt aus erhalten „vernünftige“ Handlungen nun die zusätzliche Auszeichnung, „frei“ zu sein und das wirkliche Selbst tätig werden zu lassen, was natürlich als Anreiz wirken würde. Am bedeutsamsten ist aber, dass die mit dieser Identität einhergehende Grundhaltung radikal anders wäre; man könnte sie mit der eines Ritters vergleichen, der die Burg seiner Rationalität gegen alle Angriffe von außen verteidigt. Die Welt ist kein Spiegelkabinett mehr, in das diejenigen mit einer Punkt-Identität eingeschlossen sind. Sie ist nun hell erleuchtet und mit Dingen ausgestattet, die sind, was sie sind. Wenn man auch nicht alles völlig versteht, gibt es doch nichts, was ein ewiges Rätsel bliebe: Nichts verbirgt sich im Dunkel, das nicht durch mehr Licht enthüllt werden könnte. Es ist eine kriegerische Welt mit einem klaren Frontverlauf: Der Ritter kann sich nur eines Versagens schuldig machen – er kann zu schwach sein und seine Vernunft fallen sehen. Man könnte sagen, die Identifikation mit dem verborgenen Subjekt schafft eine Welt der Furcht und Zweideutigkeit und der anderen „existenziellen“ Kategorien; die Identifikation des „wahren Selbst“ mit der Vernunft erzeugt die Welt eines Lessing oder Voltaire.
Identifikation mit der Gesamtheit
des Selbst …
Das Muster, das der Akzeptanz der gesamten eigenen Person zugrunde liegt, ließe sich ebenfalls auf dieselbe Art und Weise entwickeln. Nun lastet das ganze Gewicht jeder Handlung auf dem Handelnden. Lob oder Tadel, Ruhm oder Schande fallen ihm nicht nur für das zu, was seine Vernunft ausgewählt hat, es reicht, dass die Tat aus irgendeinem seiner Wesenselemente entsprungen ist. Dass er etwas nicht gewusst hat, nicht beabsichtigt hat, dass er getäuscht wurde, genötigt wurde – nichts von all dem zählt als triftige Entschuldigung. Eine erste Andeutung, welche Konstellation die „aristotelische“ Identifikation nach sich zieht, könnte deshalb ein Vergleich mit Ödipus bringen. Diejenigen, die ihr gesamtes Selbst akzeptieren, hätten einen Begriff von „Verantwortung“ ähnlich dem seinen, denn Ödipus tötet seinen Vater, ohne ihn zu kennen, heiratet seine Mutter, die er für die Königin eines fremden Landes hält, unternimmt alles, um seinen Schicksal zu entgehen – und blendet sich doch selbst als Strafe für Taten, die vorherbestimmt waren.
… als
Voraussetzung des Tragischen
Man könnte darüber spekulieren, ob das Vorhandensein dieser Identifikation vielleicht eine Voraussetzung für das Tragische ist. Vielleicht erfordert der Geist der Tragödie die Unterwerfung unter ein Paradox: dass man Taten, für die man keine Entscheidung getroffen hat, dennoch voll und ganz als die eigenen akzeptiert. Wenn dem so ist, dann ist vorstellbar, dass die Einführung einer viel vorsichtigeren und restriktiveren Idee von „Verantwortung“ – wo eine Handlung beabsichtigt worden und ihre Konsequenzen bekannt gewesen sein müssen, wo man sich für sie, in himmelweiter Entfernung von irgendeiner Vorherbestimmung, entschieden haben muss, um für sie „verantwortlich“ sein zu können – eine fundamentale und umfassende Veränderung bewirkte, eine, die unter anderem das Verfassen von Tragödien schwieriger machte.
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