Es war einfach nie genug Milch im Haus.
»Du bist also der Pianist? Ist ja abgefahren.«
In der Wahrnehmung anderer blieb Yosh immer der Pianist. Auch nach der Hochzeit.
»Und wie ist das so? Als Pianist?«
»Abgefahren«, sagte Yosh.
Fenja rettete ihn für gewöhnlich. Sobald sie aufstand, umschwirrten sie alle. Fenja verteilte ihre Aufmerksamkeit großzügig, aber nie wahllos. Yosh saß mittendrin und beobachtete die Szene, als sei es ein Stück auf der Bühne. Irgendwann zog er sich an den Steinway zurück und begann seine täglichen Übungen. Ein Teil der Besucher folgte ihm immer. Sie setzten sich im Halbkreis auf den Teppich, in respektvollem Abstand zum Flügel und ermahnten sich gegenseitig zur Stille.
»Stören wir?«
»Nein«, sagte Yosh, ohne von der Tastatur aufzusehen. Jetzt hörten die Leute dem zu, was er zu sagen hatte.
Auch heute roch es nach Party und dem allgegenwärtigen Chaos danach.
Yosh setzte sich auf und sank gleich wieder hin, das Licht stach ihm in die Augen, sein Magen rumorte. Er hatte auf der Ledercouch gelegen, zugedeckt mit der Tagesdecke. Auf dem zweiten Sofa lag noch jemand. Ein Schwall rotblonder Haare lugte unter der Decke hervor, und ein Gesicht voller Sommersprossen.
Yosh streckte die Hand aus.
»Nicht«, sagte eine Frauenstimme. »Sie kann endlich mal wieder richtig durchschlafen.«
Er zog die Hand zurück.
»Guten Morgen übrigens.« Die Frau stand am Bücherregal und drehte sich jetzt zu Yosh um. Sie war groß und hager, das graue Haar fiel ihr dicht und ein wenig gelockt über den halben Rücken.
Yosh erwartete halb, dass sie einen Kaffee hervorzauberte. Die Milch ist alle. Die Milch war immer alle.
»Entschuldige …« Yosh ordnete seine Gedanken, doch das Bild hatte Lücken. »Wer …?«
»Nicole.« Sie zeigte auf das Mädchen. »Das ist Izzie.«
»Yosh.«
»Ich weiß.« Sie hielt eine CD hoch. Gespenster. Composed by Leon Yoshio Maibach. Yosh lächelte in Hemdsärmeln vom Cover. Das Foto war schon älter und überaus vorteilhaft, eines von Vincents kleinen Meisterwerken. Aber Yosh sah sich selbst einigermaßen ähnlich.
»Eine ansehnliche Diskographie.« Nicole fuhr die CD-Hüllen mit dem Finger nach. »Und ein wirklich gutes Hauskonzert, gestern.«
»Danke.«
»Dein Publikum solltest du noch mal überdenken.«
»Ja ...« Yosh blinzelte. »Da waren doch noch andere?«
»Draußen. Sie räumen das Auto aus.«
»Und du? Sollst du auf mich aufpassen?«
Sie lächelte. »Sagen wir, ich bin von schwerer Arbeit entbunden.« Sie klopfte auf ihren Oberschenkel, und jetzt bemerkte Yosh, dass sie beim Gehen ihr Bein nachzog. »Kaputter Knöchel. Die Autotür. Die Kleine ist übrigens oben.«
»Kiyomi?« Yosh sah sich unwillkürlich um.
»Ah, so heißt sie.«
»Sie ist meine Schwester. Stiefschwester«, setzte er etwas verspätet hinzu.
»Verstehe.« Nicoles Blick verriet, dass sie wirklich verstand, und zwar alles. »Und der Junge?«
»Hannes.«
»Ihr kennt euch?«
»Eigentlich kenne ich eher seine Mutter. Sie hat den Gasthof, drüben in Verborn.«
»Er sagte, ihr wärt hier zu viert.«
»Schon lange nicht mehr.«
Nicole ließ sich neben ihm auf dem Sofa nieder, ging in den Schneidersitz und betrachtete ihn aufmerksam, so als suche sie in seinem Gesicht nach etwas Bestimmtem. Ihre Augen waren hart, doch umringt von Lachfalten. Die Wangenknochen standen hervor, genau wie ihre Schlüsselbeine; sie sah aus wie jemand, der viel Gewicht in kurzer Zeit verloren hatte. Tanktop und Jeans saßen locker. An der rechten Wade trug sie einen Verband.
»Autotür?« Yosh hob die Brauen.
Nicole schnaubte amüsiert. »Natürlich. Das ist genau das, was ein Gebissener sagen würde, stimmtʼs?« Sie löste den Knoten, schob das Hosenbein hoch und den Verband herunter. Blaulila Haut kam zum Vorschein. »Siehst du? Kein Biss.«
Yosh sog trotzdem scharf die Luft ein.
»Es sieht schlimmer aus, als es ist.« Sie schob Verband und Jeans an ihren Platz zurück. »Und du?«
»Wie bitte?«
Nicole deutete auf den kleinen Spiegel. Kiyomi hatte ihn neben dem Lehnstuhl liegen lassen. Weiße Krümel und eine blutige Schliere bezeugten die letzten zwei Lines ihres Lebens.
»Du scheinst mir auch nicht völlig intakt«, sagte Nicole.
Der dumpfe Schmerz hinter Yoshs Stirn wurde zu einem sanften, regelmäßigen Pochen. Mit jedem Herzschlag schwoll es an. Schmerz war Leben. Leben war gut.
Oder?
Das Mädchen bewegte sich unruhig im Schlaf, drehte sich auf den Rücken, murmelte, lag dann wieder still.
Yosh wand sich unter den Decken und Nicoles Blick hervor. »Ich sollte mal nach Kiyomi sehen.«
»Yosh?« Er war schon fast an der Tür, als Nicole ihn zurückrief. »Manchmal reicht eine Kleinigkeit. Ein Telefonanruf. Oder die Türklingel. Es bewahrt die Leute vor einem großen Fehler.« Sie lächelte. »Wir sind gerade rechtzeitig aufgetaucht, meinst du nicht?«
»Fühlt euch wie zu Hause.« Yosh ging eilig aus dem Raum. Im Flur hielt er inne und kehrte noch einmal ins Wohnzimmer zurück. »Es gibt eine Regel in diesem Haus. Niemand rührt meinen Flügel an. Niemand.«
Nicole hob die Brauen. »Ist das dein Ernst?«
»Natürlich. Über den Steinway mache ich keine Witze.«
Marah und Simon betraten den Raum kurz danach.
»Und?«, fragte Marah.
Nicole stand vom Sofa auf, verzog das Gesicht, als der Schmerz kam. Sie atmete tief durch. »Er ist okay.«
»Ist das deine fachliche Einschätzung?«, fragte Simon. »Und die gründet sich worauf genau?«
Nicole ging zum Bücherregal zurück, suchte es mit den Augen ab und zog ein schmales Bändchen heraus.
Ernest Hemingway. Der alte Mann und das Meer.
»Wer Hemingway liest, kann kein schlechter Mensch sein.«
»Großartige Diagnose.« Simon klang entnervt.
Marah unterdrückte ein Lächeln.
Nicole behielt das Buch in der Hand. »Der Junge aus dem Wald macht mir Sorgen. Aber den komischen Klaviermann, den mögen wir. Stimmtʼs, Izzie?«
Ein rotblonder Schopf kam unter der Decke hervor. Izzie blinzelte, lächelte und nickte.
»War ja klar.« Simon wandte sich ab.
Kiyomi stand am Fenster und schaute durch einen Spalt zwischen den Gardinen. Sie hatte Kopfhörer in den Ohren. Die 90er-Musik lief. Kiyomi drehte sich trotzdem um, als Yosh ins Zimmer kam. »Ich dachte, ich hätte das geträumt.«
Sie hatte eine blaue Jeansjacke an. Die gehörte nicht ihr. Hannes. Der hatte so eine Jacke getragen. Er hatte sie Kiyomi wohl überlassen. Nicht, dass das nötig gewesen wäre.
Yosh schaute über Kiyomis Schulter. Draußen machten sich der Mann und die Frau an ihrem Auto zu schaffen, einem Subaru Kombi mit einigen Kratzern und Dellen. Auf dem Kies stand ein Wasserkanister, der schwer aussah. Sie griffen gleichzeitig danach und sahen einander an.
Der Mann ließ zuerst los. Er war brünett und keine eins siebzig.
Die Frau war ein kleines Stück größer, dünn; sie hatte ein schmales Gesicht und einen mausbraunen Zopf. Beide waren ungefähr in Yoshs Alter, er etwas älter, sie etwas jünger.
Marah. Der Name tauchte in Yoshs Bewusstsein auf. Die Frau hieß Marah.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, sah sie hoch. Kiyomi duckte sich sofort, wich vom Fenster zurück und warf sich aufs Bett.
Yosh und Marah sahen einander an. Sie nickte, er nickte. Der Mann schlug den Kofferraum zu und sah ebenfalls zu ihm hinauf. Yosh zog die Gardine vor.
Kiyomi hockte auf dem Bett und presste sich ein Kissen vor die Brust.
»Bleiben die jetzt?«
»Sieht so aus.«
Sie zog einen Schmollmund. Die Haare fielen ihr in dicken, fettig glänzenden Strähnen vor die Augen. Sie hob den Kopf, streckte die Hand aus. Yosh griff danach. Sie lächelte, ihr Arm ruckte, Yosh gab nach und ließ sich zu ihr auf die Decke fallen. Sie spielte mit seinen Fingern.
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