»Ich verstehe schon«, lächelte Senta.
»Fenja kommt?« Vincent kam in die Küche geschlurft. Sein Hemd stand halb offen und gab den Blick auf die magere Brust preis. Vincents Blick klebte am Handy, unter seiner Nase eine Spur weißes Pulver. Yosh gestikulierte, Vincent sagte »Oh« und wischte die Überreste seiner morgendlichen Line weg.
Senta verfolgte das Schauspiel mit erhobenen Brauen. »Stoned vor dem Frühstück. Wie reizend.«
»Stoned anstatt Frühstück«, gab Vincent zurück. »Das ist der Trick.« Er bedachte Yoshs Trainingsjacke mit einem langen Blick. »Die Morgenrunde?«
»Komm doch mit«, schlug Yosh vor.
»Danke, Bro, ich steh hinter der Kamera, nicht davor, außerdem rennst du mir viel zu schnell. Kriegt man hier irgendwo Kaffee?«
Senta legte ihm die Hamburger Morgenpost hin. Aufgeschlagen beim Immobilienteil.
»Ja, ja.« Vincent wischte die Zeitung beiseite. »Ich suche ja. Der Markt ist gerade in Bewegung und Ateliers sind schwer zu kriegen.«
»Wissen wir«, sagte Senta.
»Die Lage muss stimmen.«
»Wissen wir auch.«
»Die Mieten gehen durch die Decke.«
»Besonders in Hamburg«, half Yosh aus und fing sich dafür einen scharfen Blick von Senta ein.
»Genau, besonders in Hamburg.« Vincent setzte sich an den Tisch. »Was ist jetzt mit Fenja?«
»Sie kommt«, sagte Yosh.
»Wirklich?«
»Sie kommt«, wiederholte Yosh, barscher als es nötig war.
Vincent hob die Hände. »Alles gut, Bro! Keiner behauptet was anderes.«
Senta reichte Yosh einen zweiten Tee, bitter und stark, ganz nach Kiyomis Geschmack. »Wenn Sie«, raunte sie durch die Zähne, »ihn nicht bald rausschmeißen, tu ich es.«
»Jaaa«, rief Vincent, die Ellbogen auf dem Tisch. »Ich sagte doch, es ist gerade schwer bei der Marktlage.«
Yosh nahm die Tasse und suchte Sentas Blick. »Nach der Party. Okay? Lassen Sie mich bitte erst diese Party hinter mich bringen.«
»Richtig.« Vincent nickte. »Alles wird gut. Nach der Party.«
Yosh ging eilig aus der Küche. Im Flur hörte er Vincent sagen: »Senta, meine Liebste. Mein Goldstück. Kaffee? Bitte!«
Im Wohnzimmer waren die Gardinen zugezogen, das Dämmerlicht ließ nur Umrisse von Bücherregalen und Ledersofas erkennen. Die Bilder waren undefinierbare Rechtecke an der Wand, das Steinway ein sanft geschwungener Umriss. Weißes Papier stapelte sich auf dem Notenständer.
Das neue Stück. Arbeitstitel: Elegie. Yosh hatte es schon viel zu lange nicht mehr angerührt.
Nach der Party.
Helles Displayleuchten verriet Kiyomis Position. Sie lümmelte auf der Couch, ein dünnes, weißes Bein auf die Rückenlehne gestützt. Yosh stellte ihr die Teetasse hin, legte den Kopf zur Seite und entzifferte die Buchstaben auf dem Tablet.
Die Verwandlung in japanischer Übersetzung.
»Kafka?«, fragte Yosh.
»Mh-hm. Hab grad meine existentialistische Phase.«
»Wohl eher surrealistisch.«
»Hä?« Kiyomi blinzelte.
Yosh lachte. »Was studierst du noch mal?«
Sie stieß einen langen Seufzer aus, Weltschmerz und Lebensüberdruss, gepaart mit einer Ladung Kaugummi mit Erdbeergeschmack. Sie streckte die Hand aus, betastete seine Softshelljacke, ertastete den MP3-Player in der Tasche und zog kurz am Kopfhörerkabel. »Du bist so alt!« Sie grinste ihn an.
»Hab dich auch lieb, Schwesterchen. Bis dann!«
Auf der Vordertreppe stellte Yosh die Playlist ein und lief in gemäßigtem Tempo los. Am Tor drehte er sich noch einmal und bedachte zuerst das alte Herrenhaus, die Blutbuche in der Einfahrt und schließlich die beiden Problembirken mit einem ratlosen Blick.
Das, was Vincent die Morgenrunde nannte, führte parallel an der Straße entlang, anschließend ging es durch ein Wäldchen. Der Boden war sandig und etwas zu weich, es hatte mehrere Tage nicht geregnet. Die Kiefern endeten auf einer Anhöhe, von dort hatte man kilometerweit freie Sicht über die Heide. Das war der beste Teil seiner Tour.
»Was tun Sie, um sich zu entspannen?« Diese Frage wurde ihm regelmäßig in Interviews gestellt.
»Ich laufe«, sagte Yosh. »Mit Musik.«
»Was für Musik?«
»90er Jahre Partycharts.«
An dieser Stelle geriet das Gespräch ins Stocken. Man fragte sich, ob er einen Scherz machte, erinnerte sich dann, dass Leon Yoshio Maibach jenseits des Klaviers als scheu und zurückhaltend galt und nicht gerade für seinen Humor bekannt war. Die Partycharts wurden als eine Marotte von vielen verbucht, anschließend ging es zurück auf sicheres Terrain. Tourdaten. Das nächste Album. Fenjas neuer Film. Umzugsgerüchte. Sie wollen fort aus Hamburg, ja? Ein Herrenhaus in der Heide, hieß es. Ob da etwas dran sei? War vielleicht Nachwuchs geplant? Oder am Ende gar schon unterwegs?
Die Nachwuchsfrage ignorierte Yosh, in Interviews und im echten Leben. Alles andere beantwortete er der Reihe nach und benutzte dabei niemals ein Wort zu viel.
Die Partycharts waren sein voller Ernst. Girl Groups und Techno-Vibes waren so weit weg von seiner eigenen Musik, sein Kopf wurde vollkommen leer dabei. Die meisten Leute verstanden das nicht. Fenja schon. Die war ja auch ein 90er-Jahre-Mädchen.
Du kommst doch zur Party? Ich schaffe das nicht ohne dich.
Dein Pferd vermisst dich.
Idiot, sagte Yosh im Takt seiner Schritte. Idiot, Idiot, Idiot.
Er hatte Partys schon immer gehasst, die eigenen Release-Veranstaltungen am allermeisten. Aber er bekam es hin. Vincent sorgte für brauchbare Fotos. Die Organisation oblag Senta, fürs Essen sorgte Gaststätte Kahlert aus Verborn, und sein Agent erledigte den Rest. Yosh musste es nur überstehen.
Komm heim, Fenja. Ich vermisse dich.
Das klang zwar genauso bedürftig, aber es war wenigstens ehrlich.
Yosh blieb kurz auf der Anhöhe stehen und entschied sich dann für die kürzere Tour. Für mehr reichte seine Energie heute nicht. In letzter Zeit hatte er oft Rückenschmerzen, sein Arzt sagte, er müsse auf sich aufpassen, jetzt, wo er auf die vierzig zuging.
»Sechsunddreißig«, korrigierte Yosh.
»Genau«, sagte der Arzt.
Die Partyhits waren kein Scherz, Sport war ein notwendiges Übel, und er nutzte den MP3-Player nicht etwa aus den von Kiyomi angenommen Altersgründen, sondern weil die Morgenrunde seine einzige Stunde am Tag war, die er ohne Anrufe und Nachrichten zubringen wollte.
Ein neues Geräusch mischte sich unter die Mädchenband, lang, laut und durchdringend. Yosh fasste sich ans Ohr und zog den Kopfhörer heraus.
Drüben in Verborn heulten die Sirenen. Ein langgezogenes Crescendo, ein Plateau, langsam leiser werdend, dann begann alles wieder von vorn. Das war kein Übungsalarm. Es brannte wohl irgendwo. Oder es hatte ein Unfall auf der Autobahn gegeben.
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Vero lag im Bett und bewunderte Faruks Wangenknochen. Sein Mund stand beim Schlafen ein kleines Stück offen und er schnarchte ganz leise. Doch darüber konnte Vero hinwegsehen.
Es war sogar ziemlich süß.
Die Nacht war eine Punktlandung gewesen. Blickkontakt auf der Tanzfläche, Lächeln, das zu einem Grinsen wurde, und zwei Flaschen Bier später stellte Vero fest, dass man sich mit dieser Schönheit mit den fantastischen Wangenknochen tatsächlich gut unterhalten konnte.
Er stand auf Musik.
»Zeitgenössisch?«
»Klassisch.«
Bingo, dachte Vero.
Sie war mit einem Kribbeln im Bauch aufgewacht, hatte eine halbe Stunde lang vor sich hin gegrinst, dann hatte sie Yosh angerufen und sich selbst zur Party eingeladen.
»Kann ich jemanden mitbringen?«
»Klar«, sagte Yosh.
Damit stand das nächste Date. Vero schlüpfte ins Bett zurück und schmiegte sich an Faruks Rücken. Klassische Musik. Die sollte er haben.
****
Die Sirenen heulten immer noch. Yosh lief neben der Landstraße her. Militärfahrzeuge fuhren vorbei, Lastwagen und Jeeps, ein ganzer Konvoi. Die Luft war dieselgeschwängert. Yosh zog den Kragen über Mund und Nase und beschleunigte noch etwas mehr, um die Abgase hinter sich zu lassen.
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