Kein anderes Tier auf der Welt hat den Menschen in seiner Entwicklung während Tausenden von Jahren und während der gesamten Evolution näher zur Seite gestanden und für größere Fortschritte gesorgt als das Pferd – zuerst als Beutetier und dann als Nutztier. Und obwohl wir Menschen uns und unseren Verstand so weit entwickelt haben, hat sich an dieser grundsätzlichen Einstellung zum Pferd im Allgemeinen noch nicht allzu viel geändert. Zwar treffe ich immer mehr von denen, die bereit sind, in dem Pferd mehr zu sehen als einen Fleisch-, Werkzeug-, Kleidungs- oder Leistungslieferanten, dennoch gibt es von denen, die das Pferd für ihre Zwecke benutzen wollen, für meinen persönlichen Geschmack noch viel zu viele.
Doch verzeihen wir uns Menschen diesen Fauxpas, denn diese scheinbare Achtungsoder Taktlosigkeit einem Lebewesen gegenüber entspringt in gewisser Weise der Natur. Unserer Natur. Der Natur, die uns Menschen Jahrtausende überleben ließ und einzig und allein durch persönliche Erfahrung, Bewusstheit und Reifung erweitert werden kann.
Der Mensch hält gern an seinen Traditionen fest, denn schließlich haben diese Erfahrungen uns Menschen zu unserem Erfolg verholfen, sodass wir heute überhaupt dort stehen, wo wir stehen. Daher ist es verzeihlich, dass einige das Pferd noch immer als Beutetier und andere als Nutztier betrachten. Es ist schlicht und ergreifend in uns und dem kollektiven Bewusstsein abgespeichert und steht uns als Erfahrung zur Verfügung. Unbewusst können wir immer wieder auf all diese uns zugrunde liegenden tiefen Erfahrungen in der Menschheitsgeschichte zurückgreifen. Und sowohl Pferdefleisch als auch Pferdehaut hat zu bestimmten Zeiten Leben gerettet.
Wie alles in der Welt findet Entwicklung immer vom Groben zum Feinen statt. Es ist wie mit dem Laufenlernen: Zuerst sind unsere Bemühungen und Bewegungen recht groß und grob, und mit wachsender Übung finden wir immer mehr Balance, unsere Schritte werden feiner, gezielter, Körper und Geist harmonieren immer besser zusammen. Irgendwann erreichen wir zum ersten Mal unser angestrebtes Ziel, und unser Vorhaben wird zu einem Erfolgserlebnis. Dieses fest im Erfahrungsschatz abgespeichert, können wir von nun an weiter vorn ansetzen und brauchen den ganzen groben Unterbau, der der Vorbereitung, der Übung und dem Training diente, nicht mehr. Versuch und Erfolg sind vorbei. Wenn wir nun etwas wollen, können wir aufstehen und laufen. Und dort ankommen, wo wir hinwollen. Ansonsten hätten wir aus unseren Erfahrungen nicht gelernt. Und wenn wir so wären, dass wir aus unseren Erfahrungen keine Lehre oder Einsicht entwickeln könnten oder würden, hätten wir in der Evolution sicher nicht so großen Erfolg gehabt. Wir sind zwar weder größer, kräftiger noch schneller als viele Mitlebewesen auf unserem Planeten, doch haben wir es geschafft, unser Gehirn so zu entwickeln, dass wir uns hervorragend anpassen und auf Situationen einlassen können – und aus ihnen lernen können. Die Evolution hat uns zu Situationsanalytikern und Problemlösern gemacht. Und wir entwickeln uns unter dem richtigen Anreiz auch immer noch weiter – bis ins hohe Alter. Die Ressourcen in unserem Gehirn sind scheinbar unerschöpflich. Sich dabei an der Natur zu orientieren bietet den Halt, den heutzutage viele vermissen. Denn allein mit unserem Verstand, unseren Handys und unserem Fernweh, das unserer geistigen, nun grenzenlosen Welt entspringt, werden wir weder satt noch haben wir ein Dach über dem Kopf oder fühlen uns in irgendeiner Weise sicher, geborgen, genährt und verbunden.
Mensch und Pferd haben sich in der Evolution immer wieder gegenseitig das Leben gerettet. Heute findet dieses Lebenretten eher im emotionalen und sozialen Bereich statt .
Was auf unserer langen Reise geblieben ist, ist die Sehnsucht nach Wärme, Geborgenheit und Schutz. Vielleicht wissen wir weniger denn je, woher wir das bekommen können und was unsere wahren Bedürfnisse tief gehend und wahrhaftig nährt und befriedigt. Zum Glück haben wir den Nomaden in uns: den, der sich immerwährend auf den Weg machen möchte – auch im übertragenen Sinne. Den, der uns antreibt. Nicht um zu suchen, nein: um zu finden!
Um uns und unser Potenzial zu entwickeln, müssen wir wieder Vorbilder und Anreize haben, die die heutige Gesellschaft uns oft nicht mehr bietet. Die Familien vermögen es kaum zu schaffen, dass wir unsere Bedürfnisse erfüllend sättigen. Auch die Gesellschaft kann es nicht leisten, die Geschäftswelt auch nicht, und die Politik schon gar nicht. Die natürliche, Sicherheit spendende Ordnung auf der Welt ist scheinbar verloren gegangen. Viele haben sich selbst oder Anteile von sich verloren und spüren den Zusammenhalt mit dem „großen Ganzen“ nicht mehr … wären da nicht die Pferde!
Früher gab uns das Pferd die Möglichkeit, dass wir uns nunmehr über immer weitere Strecken bewegen konnten, als wir Menschen es aus eigener Kraft zu Fuß hätten schaffen können. Länder konnten plötzlich durchquert werden, Gepäck, Waren und Güter transportiert werden. Pferde ließen sich einreiten, ordneten sich unter und ließen sich sogar verschiffen. Ihre Reiter eroberten durch sie ganze Kontinente. Doch solche Art Eroberung ist heute nicht mehr nötig. Auch benötigen wir ihr Leder und ihr Fleisch nicht mehr, um zu überleben, und haben andere Materialien als Werkzeuge auserkoren als ihre Knochen. Die Milch der Stuten ist noch dienlich – wenn diese nicht eigentlich für die Fohlen gedacht wäre …
Wir stecken also in einer interessanten Zeit – mitten in einem riesigen Fort-Schritt, – in der uns wieder die Pferde unterstützend zur Seite stehen.
Dieses Mal ist das Ziel feiner. Das grobe Überleben ist gesichert und aus der Sicht eines Urvolkes leben wir wohl alle im Wohlstand – teils zur Freude, teils zum Bedauern, denn mehr und mehr bleibt dabei oftmals Wesentliches auf der Strecke.
Und ebenso geht es vielen Pferden. In schicken Boxen, auf eben befestigten, hygienisch reinen Paddocks werden sie gesäubert, gewaschen, gebürstet, die Hufe geraspelt, sodass sie kaum aus der Form kommen können. Gegen Mücken, Zecken und Fliegen gibt es einen Futterzusatz oder ein Spray, wie auch gegen Flecken im Fell. Und nicht einmal wenn es um die Fortpflanzung geht, darf aktiv selbst entschieden werden. Es gibt oft nicht einmal ein Mitspracherecht. Per künstlicher Befruchtung wird oftmals der Deckakt vollzogen oder der Termin beim Hengst ist minutiös genau wie nach Fieberkurve berechnet, um ja beim ersten Mal gleich erfolgreich zu sein, um keine übermäßige Mühe zu haben und bloß keine wertvolle Zeit oder gar Geld zu verlieren. Alles ist optimiert. Den Hengst dabei kennenzulernen und die Wahl wie in der Natur für gut zu befinden, ist der Stute nicht möglich. Im Endeffekt geht es nicht um ihn – und auch nicht um sie –, es soll nur eben schnell ein möglichst gutes Fohlen mit möglichst hervorragenden Eigenschaften gezeugt werden. Ein organisatorischer, unumgänglicher Akt, wenn man für qualitativ hochwertigen Nachwuchs sorgen möchte, jedenfalls nach züchterischen Kriterien. Die Hengste schützen die Zeit der Trächtigkeit ihrer Stuten nicht mehr und Stuten müssen sich nicht mehr zum Schutz dem erfahrenen Pferdemann in seine Herde einfügen. Anspannung und Entspannung, Aufregung und Ruhe, Suchen und Finden stehen in keinem natürlichen Kontext mehr. Fohlen lernen von Anfang an kaum mehr die naturgegebene Ordnung einer Herde. So gut wie alle natürlichen Impulse und Bedürfnisse sind wegorganisiert, optimiert, minimiert. Und ob und was davon in welcher Kombination und Dosierung sinnvoll ist, hat der Halter längst abgewogen und aus Menschensicht verstandesmäßig, orientiert an wissenschaftlichen Erkenntnissen, berechnet und entschieden. Von der Natur entfernt zu sein, wird uns in der Pferdewelt zunehmend als „normal“ beigebracht. Auch unseren Kindern. Was für ein Leben aus der Sicht des Ur- oder Naturpferdes!? Man muss sich als Pferd um kaum mehr kümmern, als die zum Teil entfremdeten und unnatürlichen Tagesangelegenheiten. Alle Beispiele oben sind zudem noch die eher angenehmen und höflich formuliert …
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