herausgegeben von Thomas Götz
URSULA KAISER-BIBURGER
Das Schwabacher Wunderkind
Biografien machen Vergangenheit lebendig: Keine andere literarische Gattung verbindet so anschaulich den Menschen mit seiner Zeit, das Besondere mit dem Allgemeinen, das Bedingte mit dem Bedingenden. So ist Lesen Lernen und Vergnügen zugleich.
Dafür sind gut 100 Seiten genug – also ein Wochenende, eine längere Bahnfahrt, zwei Nachmittage im Café. Wobei klein nicht leichtgewichtig heißt: Die Autoren sind Fachleute, die wissenschaftlich Fundiertes auch für den verständlich machen, der zwar allgemein interessiert, aber nicht speziell vorgebildet ist.
Bayern ist von nahezu einzigartiger Vielfalt: Seine großen Geschichtslandschaften Altbayern, Franken und Schwaben eignen unverwechselbares Profil und historische Tiefenschärfe. Sie prägten ihre Menschen – und wurden geprägt durch die Männer und Frauen, um die es hier geht: Herrscher und Gelehrte, Politiker und Künstler, Geistliche und Unternehmer – und andere mehr.
Das wollen die KLEINEN BAYERISCHEN BIOGRAFIEN: Bekannte Personen neu beleuchten, die unbekannten (wieder) entdecken – und alle zur Diskussion um eine zeitgemäße regionale Identität im Jahrhundert fortschreitender Globalisierung stellen. Eine Aufgabe mit Zukunft.
DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, geboren 1965, studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie. Er lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg und legte mehrere Veröffentlichungen, vor allem zu Stadt und Bürgertum in Bayern und Tirol im 18., 19. und 20. Jahrhundert, vor. Darüber hinaus arbeitet er im Museums- und Ausstellungsbereich.
Einleitende Gedanken
Das Leben Jean Philippe Baratiers
I.
Die Kindheit
Die Herkunft der Familie/ Begriffsklärung »Hugenotten« / Die Eltern François und Anne Baratier/ Der Biograf Jean Henry Samuel Formey / Kindheitsjahre/ Jean Philippes seltsame Essgewohnheiten/ Kaum Umgang mit Gleichaltrigen
II.
Erste Schritte als »Wunderkind«
Der religiöse Einfluss auf die Erziehung/ Der Reformator Johannes Calvin / Optimale Förderung mit Liebe und viel Unterhaltung/ Lesen lernen ein Kinderspiel/ Eine ungewöhnliche Sprachkompetenz/ Griechisch und Hebräisch vervollständigen den Sprachenkanon/ François Baratier: Vater, Erzieher, Lehrer und Förderer/ Lesen allein genügt nicht mehr/ Pädagogische Grundsätze des Vaters / Erste umfangreiche Übersetzung/ Im Widerstreit mit einem Häretiker
III.
Die akademische Karriere
Studentenzeit in Altdorf/ Umzug nach Halle/ Ausflug in die glänzende Welt am preußischen Königshof/ Ein Beispiel aus der Erziehungspraxis / Aufnahme in die Königliche Akademie der Wissenschaften/ Rückkehr nach Halle/ Zurück zu seinen ersten Themen/ Unstillbarer Wissensdurst
IV.
Jean Philippe Baratier und die Astronomie
Entdeckung der Astronomie/ Antwort der Royal Society/ Die Längengrad-Berechnung/ Astrolabium / Trotz Absagen wird weiter geforscht/ Das Selbstbewusstsein wächst mit jeder Entdeckung
V.
Krankheit, Tod und Vermächtnis
Erste Krankheitszeichen bereits im Kindesalter/ Machtlos der Medizin ausgeliefert/ Das Ende bahnt sich an/ Letzte Ehren und Vermächtnis/ Jean Philippes Tod aus Sicht der Biografen / Tod der Eltern / Wunderkind oder »nur« hochbegabt?
Das Schwabacher Umfeld der Baratiers
VI.
Die französischen Glaubensflüchtlinge in Franken
Motive für die Ansiedlung der Refugiés in Franken/ Die erste Station: das markgräfliche Ansbach/ Die Bedeutung der Synoden bei den französischen Protestanten / Viele Privilegien nur für die Refugiés/ Der beschützende Markgraf stirbt
VII.
Die französische Kolonie in Schwabach
Ein verlockendes Umzugsangebot/ Ankunft in der zugewiesenen Stadt/ Der Bau des Kirchenhauses/ Neue Wohnhäuser, ein Schulhaus und ein Friedhof/ Von Lehrern und Schülern / Michel de Claraveaux – Teppichwirker und Motor der französischen Kolonie/ Neue Ideen versus alte Gewohnheiten/ Wirtschaftlicher Aufschwung zu einem sehr hohen Preis/ Permanente Konkurrenzkämpfe/ Nichts als Zank und Streit im Stumpfwirker-Handwerk/ Auch die französischen Bortenmacher haben zu leiden/ Immer mehr französische Handwerker verlassen die Stadt/ Die starke Mobilität der Franzosen wird zum Problem
Die Entwicklungen in der Kirchengemeinde
VIII.
Aus den Refugiés werden reformierte Protestanten
Im 18. Jahrhundert/ Was bedeutet Kirchenzucht? / Im 19. Jahrhundert/ Einblicke in das Gemeindeverzeichnis der Jahre 1860 bis 1875/ Veränderungen markieren den Weg in die Gegenwart
Schlussgedanke
Anhang
Zeittafel/ Literaturverzeichnis/ Bildnachweis/ Dank
Was verbindet Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven mit Jean Philippe Baratier? Gemeinhin werden sie als Wunderkinder bezeichnet! Früher ist das eine durchaus übliche Bezeichnung für Kinder mit ungewöhnlichen Talenten gewesen. Heute ist das anders. Zwar haben die beiden genannten Musiker eine wesentlich größere Popularität erlangt als der junge Geistes- und Naturwissenschaftler Baratier, aber gemeinsam ist allen dreien neben ihrer Genialität die Tatsache, dass sie im 18. Jahrhundert geboren worden sind. In jenem Jahrhundert hat es eine Vielzahl an ganz besonders begabten Kindern gegeben, die sich aufgrund ihrer außerordentlichen musikalischen, sprachlichen oder mathematisch-naturwissenschaftlichen Fähigkeiten von gleichaltrigen Kindern ihrer Zeit abgehoben haben und daher als sogenannte »Wunderkinder« gefeiert worden sind.
Zu diesen Ausnahmeerscheinungen zählt Jean Philippe Baratier, der am 19. Januar 1721 geboren wurde. Wenngleich seine herausragenden Sprachkompetenzen zunächst nur innerhalb der bildungsbeflissenen höfischen Gesellschaft für Aufsehen sorgten, so erntete er doch alsbald allgemein Respekt und Bewunderung für seine Fähigkeiten. Besonders wichtig war für seine Entwicklung die bestandene Prüfung an der Universität Halle zum Magister Artium 1735. Im Alter von 14 Jahren, als Jüngster in diesem Kreis, erhielt Jean Philippe mit dieser Ernennung die gebührende Anerkennung und den Eintritt in die damalige Wissenschaftswelt.
Ohne Zweifel musste das Jahr 1721 ein ganz besonderes gewesen sein. Nur knapp drei Wochen nach der Geburt von Jean Philippe Baratier erblickte ein weiteres »Wunderkind« in Lübeck das Licht der Welt: Christian Heinrich Heineken (6. Februar 1721). Die beiden Knaben offenbarten bereits im frühesten Kindesalter außerordentliche Sprachfähigkeiten. Dennoch sah Immanuel Kant in ihnen nur »frühkluge Kinder«, wie Ingrid Bodsch in ihrer Abhandlung erwähnt. Vielleicht waren diese Begabungen für ihn gar nicht so ungewöhnlich, vielleicht nur »merk-würdig« im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Heineken konnte mit 14 Monaten das Alte Testament rezitieren, beherrschte mit zwei Jahren Französisch sowie Latein und mit knapp drei Jahren zählte er die Mitglieder aller europäischen Herrscherhäuser auf. Jean Philippe Baratier vermochte hier durchaus mitzuhalten. Mit fünf Jahren beherrschte er fehlerfrei vier Fremdsprachen. Als Sechsjähriger lernte er darüber hinaus Altgriechisch und die »heilige« Sprache Hebräisch. Während Christian Heinrichs Lebenslicht bereits in dessen vierten Lebensjahr am 27. Juni 1725 wieder erlosch, erblühten Jean Philippe Baratier sowie sein unbeschreiblich vielfältiges wissenschaftliches und naturwissenschaftliches Schaffen, das jedoch ebenfalls sehr früh endete: Im Alter von nur 19 Jahren starb Jean Philippe Baratier.
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