Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Für Anna
Lieber ozeanisch entgrenzt als spießbürgerlich begrenzt. Als Pubertierender in der Revolte habe ich das auch mal geglaubt. Wenn man wie ich im eher autoritären Nachkriegsdeutschland der 50er und 60er aufgewachsen ist, konnte man solche Gedanken durchaus entwickeln, wirkten sie sogar verführerisch und verheißungsvoll. Mit den 68ern kam der Laissez-faire-Stil in der Pädagogik auf, mit anderen Worten: Grenzen in der Erziehung setzen war irgendwie out. Entgrenzung im Kleinen.
1989 fiel die Berliner Mauer, die Sowjetunion löste sich auf, der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama sah auf lange Sicht die unaufhaltsame und begrüßenswerte Ausbreitung der liberalen Demokratie und die zunehmende Bedeutungslosigkeit von Nationalstaaten und Religionen. Beginnende Entgrenzung im Großen.
Heute wissen wir, dass der Zerfall der Sowjetunion zahlreiche neue Grenzen zur Folge hatte. Und die nach der Laissez-faire-Methode Erzogenen waren nicht gerade die, die das spätere Leben besonders gut bewältigten. Diese beiden Entgrenzungsphantasien können schon jetzt als gescheitert angesehen werden. Das deckt sich gut mit meiner persönlichen Erfahrung. Nach fast 30 Jahren als Gefängnisarzt habe ich nur zu oft erlebt, welch verheerende Wirkung das Aufwachsen in einem schranken- und grenzenlosen Milieu für Täter und deren Opfer hat. Mit Grenzziehungen im Knast sind nicht nur Mauern und Gitterstäbe zum direkten Schutz der Allgemeinheit gemeint. Genauso wichtig sind klare Worte und Grenzziehungen hinter Gittern, wo man ständig mit Menschen konfrontiert ist, die bislang in einer Welt der Grenzüberschreitungen gelebt haben. Wer hier den Konflikt scheut und rote Linien nicht ziehen kann, der hat verloren.
Gerade als Arzt und Humanist weiß ich, wie empfänglich Menschen für verheißungsvolle Ideen sein können. Umso wichtiger ist das vorliegende Buch, das zeigt, was Entgrenzung tatsächlich ist: Eine zurechtgedachte Idee, die an der Mauer der Realität zerbrechen wird.
Joe Bausch
Dies ist eine Entzauberung – die Analyse einer Idee, die immer rascher immer klarere Formen annimmt und alle Lebenswelten zugleich erobern möchte. Ob in Erziehung, Partnerschaft, Kunst, Alltag, Philosophie, Politik, der Finanz- oder der Flüchtlingskrise, der Medizin oder Psychologie – überall wird das Prinzip Grenzenlosigkeit als Lösungsschlüssel par excellence offeriert. Subtil bis offen kommuniziert soll das kollektive Bewusstsein mit dieser neuen Beglückungsphantasie verzaubert werden. Die Chancen, dass dies wieder einmal klappt, stehen gar nicht so schlecht. Die letzten Beglückungsphantasien oder Ideologien, wie Kommunismus und Faschismus, haben gezeigt, dass so etwas geht und wie so etwas geht. Der französische Schriftsteller Victor Hugo hatte es schon im 19. Jahrhundert treffend formuliert: Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Also höchste Zeit, sich das Prinzip Grenzenlosigkeit einmal ganz genau anzuschauen. Denn bislang waren alle Utopien Einbahnstraßen zu Dystopien, aus vermeintlich zauberhaften Ideen wurde nur fauler Zauber, der im schlimmsten Fall im Blutbad mündete.
Überall wird das Prinzip Grenzenlosigkeit als Lösungsschlüssel par excellence offeriert .
Dass wir Grenzen brauchen, überall Grenzen existieren und Grenzenlosigkeit irgendwie noch nie so richtig funktioniert hat, ist eigentlich eine Banalität. Anders formuliert: Grenzen sind eine klare und einfache Lösung. Doch gerade die einfachen Lösungen haben einen denkbar schlechten Ruf und für die komplex zurechtgedrechselten Ideengebäude von Linksintellektuellen, zu denen man zur Zeit auch die der Mitte rechnen muss, sind sie das Schmuddelkind schlechthin. Am Beispiel Grenzenlosigkeit lässt sich sehr schön zeigen, wie gerade hier etwas Zurechtgedachtes an der Wirklichkeit zerbrechen wird und die einfache Lösung die richtige ist. Wenn alle Grenzen aufgehoben würden, dann ließen sich die Dinge nicht mehr exakt voneinander unterscheiden und das Schlechte ließe sich nicht mehr vom Guten trennen. Es ist ein Irrglaube, dass sich durch Vermischung mit dem Guten das Schlechte verliere. In einer zunehmend werterelativistischen und orientierungslosen Zeit werden klare Trennungen, Identifizierungen und Identitäten immer wichtiger. Das Konzept der Grenzenlosigkeit würde Orientierungslosigkeit durch grenzenlose Orientierungslosigkeit ersetzen. Und doch hat es die Grenzenlosigkeit geschafft, sich wie ein heimtückischer viraler Kobold in den Köpfen der Menschen einzunisten. Noch längst nicht bei allen Menschen, aber immerhin bei Menschen, die in den Medien Wortführer sind und manchmal auch gesellschaftspolitische Entscheidungen treffen und Fakten schaffen. Von ihnen wird Grenzenlosigkeit als vielgestaltig und verführerisch dargestellt. Doch im Resultat schafft sie noch mehr Probleme als vorher ohnehin schon da waren. Es ist schon erstaunlich, wie ein nicht zu Ende gedachtes Konzept als so erfolgversprechend auftreten konnte und weiterhin kann. Deshalb wird in diesem Buch die Strategie und Vermarktung dieses Konzeptes, insbesondere in Philosophie und Politik, gründlich analysiert. Richtschnur ist dabei nicht Political Correctness, sondern eine faktenbasierte Darstellung in postfaktischen Zeiten.
Dass wir Grenzen brauchen, überall Grenzen existieren und Grenzenlosigkeit noch nie richtig funktioniert hat, ist eigentlich eine Banalität .
Es ist ein Irrglaube, dass sich durch Vermischung mit dem Guten das Schlechte verliere .
1. Nur das Universum ist grenzenlos – oder?
Schöpfungsmythen und moderne Naturwissenschaften sind in ihren Kernaussagen ähnlicher als man zunächst vermuten möchte. Zum Beispiel der zweite Hauptsatz der Thermodynamik: dieser wurde in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts formuliert und besagt im Wesentlichen, jenseits von physikalischen Formeln und mathematischen Gleichungen, dass ein System ohne Zufuhr von äußerer Energie immer zum Zustand der maximalen Unordnung strebt. Das kann man in der Lebenswirklichkeit auf Schritt und Tritt beobachten. Wird ein Haus oder eine Villa nicht regelmäßig gesäubert und renoviert, werden nicht Unwetterschäden ausgebessert, so kommt es über Jahre und Jahrzehnte zu Verstaubungen, Verschmutzungen, und am Ende stehen Verrottung und Verfall. Im Zeitraffer illustriert dies die gleichnamige Verfilmung von H. G. Wells Roman „Die Zeitmaschine“. Die Reise durch die vierte Dimension Zeit beginnt in einer Londoner Villa Silvester 1899. Jahrzehnte später beherrschen Zentimeter dicke Staubschichten und Spinnweben das Bild und das Gebäude wird durch ein Abbruchunternehmen dem Erdboden gleichgemacht. Jahrtausende später ist auch die zellulosehaltige Grundstruktur von übrig gebliebenen Büchern völlig aus der Form geraten, ein kleiner Händedruck reicht aus und ein Buch zerbröselt in Millionen kleine Partikel. Eben das christliche Vergänglichkeitsmantra von Asche zu Asche, Staub zu Staub. Genauso prognostiziert es auch die moderne Physik. Diese überall zu beobachtende wachsende Unordnung, wenn die Dinge sich selbst überlassen werden, heißt im Fachjargon Entropie. Letztlich ist sie es, die für Krankheit und Tod verantwortlich ist. Um diesen zunehmenden Grad an Unordnung abzubremsen ist immer Energie notwendig, die auf zellulärer Ebene in molekularen Reparaturprozessen transformiert wird. Das funktioniert eine gewisse Zeit, Unsterblichkeit ist nicht vorgesehen, sieht man einmal von bestimmten Einzellern und pathologischen Krebszellen ab.
Was das alles mit Schöpfungsmythen zu tun hat? Auch hier bedarf es Energie, um in einen ungeordneten, chaotischen Urzustand mit hoher Entropie eine gewisse Struktur hineinzubringen, den Verfall gewissermaßen umzukehren. Bei Naturvölkern sind es mythologisch überhöhte Tiere, die aus amorpher Erde oder Lehm die Erdkugel und weitere Himmelskörper erschaffen. In der griechischen Mythologie erzeugt die Erdgöttin Gaia Meer und Himmel, bei den alten Griechen Pontos und Uranos genannt. Aus der Verbindung Gaia und Uranos entstanden die zwölf Titanen, die Vorläufer der Götter. Im Alten Testament ist es Gott, der Himmel und Erde schuf. Er ist es auch, der Tohu (wüst) und Bohu (wirr) – daher das Wort Tohuwabohu – in geordnete Verhältnisse umwandelt. Ob mythisch überhöhte Tiere oder Götter, das Prinzip ist nicht nur die Schaffung von Neuem aus dem Nichts oder aus dem Chaos durch übernatürliche Energie, sondern die damit unmittelbar verbundene Grenzziehung. Denn nur so kann das eine von dem anderen überhaupt qualitativ unterschieden und erkannt werden.
Читать дальше