Zwischen uns stehen Leute herum, alle zwischen achtzehn und siebzig. Eine interessante Mischung von Menschen. Es riecht nach Schweiß und Alkohol. Vielleicht ein bisschen nach Rauch. Käsebällchen. Die Luft ist stickig und ungelüftet. Anfangs war die Party noch ruhig, aber mit jeder Stunde wurde es schlimmer. In meinem rechten Ohr höre ich jemanden knabbern, im linken rascheln.
Jemand stößt mir mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Hallo?“
Ich sehe auf. Ich muss die Augen für einen Moment von Are nehmen und stattdessen Malin in die Augen sehen, mit ihren lockigen Haaren und dem Weinglas in der Hand.
Sie sieht mich mit stierem Blick an und stößt auf. „Willst du?“
„Was?“ Ich halte mich am Türrahmen fest und spähe in die Küche. Schon wieder.
Wo ist er?
Er saß auf dem Stuhl, aber jetzt …
Klauen legen sich um mein Herz. Höllisch starke Klauen, ich kann nicht mehr atmen. Keine Luft. Er … er … mir ist übel, es tut so weh, in meinem Hals steckt die Angst und ich muss mich übergeben und … Au! Au! Warum tut es so weh?
„Hallo, hier!“ Malin quasselt weiter. „Ich habe dich gefragt ob …“
Sie küssen sich. Are und Sanna. Sie lehnen an einer Wand. Zwischen uns wimmelt es nur so von Leuten, aber ich kann sie deutlich sehen. Die Lippen, die sich bewegen. Die Zungen. Ihre Hände sind in seinen Haaren, seine liegen um ihre Schultern. Es ist wirklich kein Küsschen, es ist ein Kuss. Sie knutschen. Wenn ich wenigstens wegsehen und auf meinen Instinkt hören könnte, aber ich bin wie hypnotisiert. Kann. Nicht. Muss sehen. Muss mich selber quälen. Sanna reibt ihren Körper an Ares Hemd. Sie trägt einen tiefen Ausschnitt. Ich schließe die Augen und sehe wieder hin. Sie sind noch immer da. Die Haut glänzt auf den prallen Brüsten. Ein Schweißtropfen hat auf der einen eine glänzende Spur hinterlassen.
Da sieht Are auf. Direkt zu mir, mitten im Kuss. Seine Pupillen werden weit. Er lässt Sannas Schultern los. Hinter mir fällt etwas um, vielleicht geht es kaputt. Ein Schrei. Die Leute verstummen. Ares und Sannas Lippen lassen voneinander ab, Sanna lächelt breit. Roter Lippenstift an Ares Kinn. Er sieht mir hinterher, als ich mich umdrehe und in den Flur laufe. Ich greife im Lauf nach meinem Mantel, ziehe mir schnell die Schuhe an und öffne die Wohnungstür. Vor meinen Augen dreht sich alles. In meinem Mund der Geschmack von Metall. Ich huste. Mir fällt ein Schuh vom Fuß, aber es ist mir egal, dass ich beinah hinfalle. Ich nehme ihn in die Hand und humple weiter. Ich will nicht anhalten. Will nicht.
„Linda! Warte!“
Ich renne nach draußen und lasse die Tür hinter mir offen. Laufe ins Treppenhaus. Viele, viele Steinstufen. Mein einer Absatzschuh klickt und klackt. Ich darf nicht runterfallen. Halte mich am Geländer fest. Kämpfe gegen die Tränen an. Warum bin ich so traurig? Warum? Ich habe einen Mann zu Hause. Ich bin besetzt. Are kann machen, was er will, wir sind nicht zusammen. Wir sind nicht …
Warum fühlt es sich also so an? Warum rast mein Herz, wenn er in der Nähe ist? Warum fühlt es sich an, als hätte er mich betrogen? Ausgerechnet mit Sanna! Sanna! Sie besteht nur aus Brüsten und Arsch. Er könnte doch was Besseres haben. So ist es. Er könnte was Besseres haben.
„Linda!“
„Hör auf!“, rufe ich über meine Schulter, stolpere, halte mich aber am Geländer fest.
„Was ist los? Warum rennst du weg?“
„Komm mir nicht hinterher!“
„Habe ich was falsch gemacht?“ Seine Stimme hallt ein Stockwerk über mir durchs Treppenhaus. Mein Körper kribbelt vor Sehnsucht.
„Geh zu Sanna zurück!“
„Sanna?“
„Ja!“
„Warum?“
„Ihr scheint …“
Eine Hand auf meinem Handgelenk und ein Körper, der mich gegen die Steinwand drückt.
Alles ist still.
Nur Ares schneller Atem an meinem Kiefer ist zu hören. Noch immer ist Lippenstift auf seiner Haut. Eklig. Und er stinkt nach Sannas Kirschparfüm. Aber sein Atem ist warm. Feucht. Er riecht so gut, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Mein Körper brennt. Vor Wut und Sehnsucht. Ich hasse ihn, ich liebe ihn. Mein Blick flackert zwischen seinen Augen und seinen Lippen hin und her. Schmale Lippen, aber trotzdem irgendwie füllig. Müssen sie so einladend sein? Ich hatte geglaubt, dass ich lieber vollere Lippen mag. Tue ich das nicht? Nein. Ich mag schmale, die trotzdem irgendwie füllig sind. Das mag ich. Darauf fahre ich ab.
Nichts ist gelaufen wie geplant.
Zuerst bin ich Ares Persönlichkeit verfallen. Danach seinem Aussehen. Und was für ein Aussehen! Dass ich das nicht von Anfang an gesehen habe! Er ist ein Gott, eine Fantasie. Klar fand ich von Anfang an, dass er gut aussah, aber ich habe falsch geguckt. Ich sah es nicht als Möglichkeit, dass er und ich … Denn er war zu alt, er ist zu alt. So viel älter. Aber das sieht man kaum, und das, was man sieht, ist einfach nur hübsch. Die Falten in der Haut sind charmant und lassen ihn reif und erwachsen aussehen.
Sein Blick ist voller erregender Weisheit. Seine Augenbrauen sind so blond, dass die Haut sie beinah verschwinden lässt. Aber einige Härchen sind dunkler und blitzen schelmisch hervor. Die Mundwinkel sind mit feinen Strichen angereichert, sie sind hübsch anzusehen und ich will sie streicheln. Langsam. Seine Lippen sind geöffnet, sodass seine Vorderzähne in der Dunkelheit zu sehen sind, der eine ist etwas kürzer als der andere. Sie sind vom Rotwein verfärbt.
Sie sehen feucht aus. Die Lippen. Aber die Zähne … ja, die auch. Ich würde sie so gerne ablecken. An den Kanten knabbern. Den Speichel schmecken. Herausfinden, wie er schmeckt.
Von keinem dieser Dinge hätte ich gedacht, dass ich sie mal herbeisehnen würde.
Dreißig Jahre liegen zwischen uns.
Trotzdem habe ich Schmetterlinge im Bauch, meine Schenkel brennen und mir ist heiß. Ich bekomme keine Luft, ich ersticke.
„Da ist etwas?“, flüstert er, zu nah an mir dran. „Wir reden drüber.“
„Du weißt es schon.“
„Linda.“ Er schüttelt leicht den Kopf. „Ich weiß nichts.“
„Du weißt es.“ Ich hauche die Worte hervor. Fange seinen graublauen Blick ein und halte ihn fest. Jede Silbe ist eine körperliche Anstrengung, aber ich muss es hervorbringen. „Du weißt … was ich … meine.“
Er sieht mich eine Weile an. Legt die Hand an meine Wange. Langsam und vorsichtig, als ob ich zu zerbrechlich für mehr als ein sanftes Streicheln bin. Die Haut erwacht und antwortet mit einem Brennen. Trotzdem fließt das Blut in Richtung Schritt. Ich drücke die Beine aneinander und atme abgehackt. Es ist in jeder Hinsicht verboten. Unzulässig, falsch. Wir dürfen nicht, wir können nicht. Ich frage mich, ob er versteht, und hoffe es, weil ich es nicht laut sagen kann. Es ist unmöglich. Ich glaube nicht, dass ich den Satz jemals herausbekomme.
Was sollte ich sagen? Ja, ich bin verliebt in dich und das schon seit Monaten … Vielleicht seit einem halben Jahr. Allein der Gedanke macht mich ängstlich und glücklich zugleich. Ich liebe dich. So sehr. Liebst du mich?
Das würde ich mich niemals trauen.
Sein Grübchen ist weg, seine Augen glasklar – ein bisschen feucht. Keine Spur von Freude. Auch nicht vom Alkohol. Einfach nur reine Sorge. Seine Lider flattern, während er mich ansieht. Seine Pupillen fahren über mein ganzes Gesicht. Er nimmt es wirklich in sich auf und lässt keine Pore aus. Sein Mund ist offen.
Du bist in mich verliebt? Sein Blick sagt alles. So voller Sorge. Tief und verführerisch. Ein so dunkler Blick, dass ich ausweichen sollte, weglaufen, fliehen.
Es ist gefährlich. Er. Darf. Es. Nicht. Wissen. Darf er nicht. Erst dann wird es wahr. Erst dann kann ich aufhören, mir etwas vorzumachen. Aber mein Körper gehorcht mir nicht. Denn gleichzeitig will ich, dass er versteht. Gleichzeitig will ich es nicht mit Worten sagen müssen und nicht wegrennen müssen und es nicht mehr verdrängen. Dieses Scharadespiel raubt mir meine Energie. Ich kann nicht mehr. Wie kann ich ihm widerstehen? Es geht nicht. Wir haben das Thema schon so lange umgangen. Bis spät in die Nacht gechattet und uns sogar gute Nacht gesagt. Welche Nur-beste-Freunde tun so etwas? Wir haben Spaß gehabt, geflirtet und gelacht, über Dinge, die nur wir verstehen. Eigentlich sind wir schon lange ein Paar. Wir wussten es nur nicht.
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