Außerdem waren da noch seine Bücher. Er liebte sie über alles! Seine Bibel: vom vielen Lesen dünn geworden; wie oft hatte sie ihn getröstet! Auch wenn er nicht alles verstand, so fühlte er doch ihre spirituelle Energie. Sie war sorgfältig eingepackt und Mike hätte sie niemals irgendwo zurücklassen können. Dann seine Jugendbücher, die ihm so viel bedeuteten: Die Hardy Boys, Charlottes Netz – ein paar Taschenbücher, die er ab und zu wieder las; und die ihn jedesmal an die Zeit erinnerten, als er diese spannenden Geschichten zum ersten Mal gelesen hatte und an alles, was er in dem Alter gemacht hatte. Schließlich das tolle Abenteuerbuch von Moby Dick – da war er schon etwas älter – und die Sherlock-Holmes-Serie. Und dann einige seiner Lieblingsgedichte von unbekannten Schriftstellern.
All die Bücher und Fotos passten problemlos in zwei Taschen und waren leicht zu tragen, so dass er auch noch einen mittelgroßen Beutel für Proviant mitnehmen konnte. Mike war mit allem fertig und legte sich zum Schlafen ein letztes Mal auf den Boden seines nun leeren Apartments. Er hatte ein Kissen und das genügte. Er war für den kommenden Tag gerüstet und auf seine spirituelle Suche so gespannt, dass er kaum einschlafen konnte – so sehr beschäftigte ihn alles, was passiert war und die Verheißung des Kommenden. Morgen würde seine Reise nach Hause beginnen.
*Engl. Opi: of Pure Intent. Dieser Name bezieht sich auf Obi-Wan Kenobi aus »Star-Wars« Im Verlauf der Erzählung zeigen sich Gemeinsamkeiten zwischen Michael und Obi-Wan. (A.d.Ü)
V i e r
Das erste Haus
Der nächste Morgen sah ein wenig trüb aus, doch Mike war in ausgezeichneter Stimmung. Von dem bisschen Geld, das er gespart hatte, kaufte er sich ein großes Frühstück und aß es auf der Terrasse eines Bistros in der Nachbarschaft. Es war ein seltsames Gefühl, um diese Zeit draußen zu sein. Normalerweise arbeitete er jetzt schon, gewohnt, den ganzen Tag zu schuften, ein Butterbrot am Schreibtisch zu essen und den Sonnenuntergang zu verpassen, da er um die Zeit noch im Büro saß.
Die Taschen in der Hand und den Sack geschultert, stand Mike vor dem Restaurant und überlegte, in welche Richtung er gehen sollte. Er wusste, dass er nicht nach Westen konnte, da der Ozean ihm schon bald den Weg versperren würde. Also auf nach Osten, bis ihm eine andere Marschroute gezeigt wurde. Mike hatte ein gutes Gefühl dabei, eine Reise zu unternehmen, die auf Glauben und Vertrauen gegründet war; dennoch hätte er gerne ein klareres Ziel gehabt.
Wenn ich nur wüsste, in welche Richtung ich gehen soll – oder wenigstens eine Karte hätte oder einen Hinweis auf meinen augenblicklichen Standort, sagte Mike zu sich selbst, während er ostwärts wanderte und die scheinbar endlosen Vororte von Los Angeles durchquerte, um den Fuß der Hügel anzusteuern, wo ein weiteres Wohnviertel begann. Es wird Wochen dauern, bis ich zu Fuß hier raus bin, dachte er.
Mike hatte keine Ahnung, wo er hinging, hielt sich aber immer in Richtung Osten. Um die Mittagszeit setzte er sich auf einen Bordstein und verzehrte die Reste, die von seinem Frühstück übriggeblieben waren. Wieder fragte er sich, ob er wohl auf dem richtigen Weg sei.
»Wenn ihr da seid, dann brauche ich euch jetzt!«, rief Mike zum Himmel hinauf. »Wo ist der Eingang zu meinem Weg?«
»Eine aktuelle Landkarte ist vonnöten!« Mike hörte eine bekannte Stimme in seinem Ohr sprechen. Er stand auf und blickte um sich, sah aber niemanden. Er erkannte die Stimme des Engels.
»Habe ich das gehört oder gefühlt?«, murmelte er aufgeregt und erleichtert. Zumindest gab es nun eine Verständigung!
»Warum hast du so lange gebraucht?«, fragte Mike, der Sinn für Humor hatte.
»Du hast gerade erst um Hilfe gebeten«, antwortete die Stimme.
»Aber ich bin seit Stunden unterwegs!«
»Das war deine eigene Entscheidung«, bemerkte die Stimme. Warum hast DU so lange gebraucht, deine Bitte an uns zu richten?« Die Stimme hatte offensichtlich Spaß daran, Mikes Vorwurf umzukehren.
»Meinst du damit, dass ich nur Hilfe bekomme, wenn ich darum bitte?«
»Ja. Stell dir vor!«, erwiderte die Stimme. »Du bist ein freier Geist, mächtig und hoch geehrt; imstande, den eigenen Weg zu finden, wenn du dich dazu entschließt. Dein Leben lang hast du nichts anderes getan. Wir sind immer da, aber nur dann aktiv, wenn du darum bittest. Ist das so seltsam?« Mike war einen Augenblick irritiert, denn der Engel hatte vollkommen recht.
»O.k., wo soll ich also hingehen? Jetzt wird es schon Nachmittag; den ganzen Morgen über habe ich geraten, in welche Richtung ich gehen soll.«
»Richtig geraten«, antwortete die Stimme wie mit einem Zwinkern. »Das Tor zu deinem Weg liegt direkt vor dir.«
»Das heißt, ich bin die ganze Zeit darauf zugelaufen?«
»Es braucht dich nicht zu wundern, dass du darauf zugegangen bist. Du bist ein Teil des Ganzen, Michael Thomas von reiner Absicht. Mit etwas Übung wird deine Intuition dich führen. Ich bin heute nur hier, um dir einen kleinen Hinweis zu geben.« Die Stimme zögerte. »Schau nach vorne, du bist schon am Eingangstor!«
Michael stand vor einer großen Hecke, die zwischen den Häuserreihen in eine Schlucht führte.
»Ich kann nichts sehen.«
»Schau noch einmal hin, Michael Thomas.«
Michael starrte auf die Büsche und erkannte langsam die Umrisse eines Tores. Es war versteckt geblieben, weil es sich in die Form der Pflanzen einfügte. Jetzt schien es ihm unmöglich, das Tor NICHT zu sehen, selbst wenn er es gewollt hätte. Es war unverkennbar! Er drehte sich einen Moment zur Seite und schaute dann noch einmal – mit neuem Blick. Da war es, sogar noch deutlicher als eben.
»Was ist los?«, fragte Mike, dem auffiel, dass seine Wahrnehmung sich veränderte.
»Wenn das Unsichtbare sichtbar wird«, sagte die sanfte Stimme, »dann kannst du nicht in die Unwissenheit zurückfallen. Du wirst von nun an jedes Eingangstor sofort erkennen – weil du die Absicht bekundet hast, dieses hier zu sehen.«
Obgleich Mike nicht ganz verstand, was das zu bedeuten hatte, war er begierig, den eigentlichen Weg seiner Reise zu betreten. Die Hecke sah inzwischen nicht nur aus wie ein Tor, sondern verwandelte sich tatsächlich in eines! Direkt vor Mikes Augen begann sie zu wachsen und eine neue Form anzunehmen.
»Das ist ja ein Wunder!«, flüsterte Mike und schaute zu, wie die hohe Hecke zur Eingangspforte wurde; ja, er wich sogar ein wenig zurück, um dem Phänomen Platz zu machen.
»Eigentlich nicht«, antwortete die Stimme. »Deine spirituelle Absicht hat DICH ein wenig verändert; dadurch werden die Dinge, die auf deiner neuen Stufe schwingen, plötzlich für dich sichtbar. Kein Wunder, sondern einfach die Art und Weise, wie es funktioniert.«
»Du meinst, mein Bewusstsein kann die Realität verändern?« , fragte Mike.
»Wenn du es so ausdrücken willst«, erwiderte die Stimme. »Realität ist die Essenz Gottes und ist immer gleich. Dein menschliches Bewusstsein offenbart dir nur die neuen Aspekte der Realität, die du kennen lernen möchtest. Während du dich veränderst, siehst du immer mehr davon, und du kannst diese neuen Offenbarungen erleben und nutzen, wie du willst; nur zurück kannst du nicht.«
Mike begann zu verstehen; doch hatte er noch eine Frage, bevor er sich durch das sichtbar gewordene Tor auf den Weg machte. Immer schon war es ihm ein Bedürfnis gewesen, alles auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu prüfen – auch die Engel-Stimme, die er im Inneren hörte. Er überlegte sich seine Frage und stellte sie:
»Du hast gesagt, ich sei ein Geschöpf mit freiem Willen. Warum kann ich dann nicht zurück, wenn ich es will? Was ist, wenn ich die neue Realität ignorieren möchte, um zu einer einfacheren zurückzukehren? Ist das nicht freier Wille?«
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