Noch vor dem Parkplatz erreichte sie eine Antwort. Auf dem Display leuchtete das Bild eines Tellers. Darauf schmiegten sich zwei Wiener Würstchen an hausgemachten Kartoffelsalat, Tannengrün im Hintergrund. Bildunterschrift: Ich Spießer [Zwinkersmiley].
Der Mann hielt direkt vor der Eingangstür. Beim Aussteigen sah sie durch das Panoramafenster. Die Lichterkette blinkte nervös. Sie erinnerte sich an das Essen, an die zu ockerfarbenen Bergen aufgestapelten Convenience-Produkte. Sie presste eine Hand auf den Magen.
Er war bereits einige Schritte vorausgegangen und hielt ungeduldig die Tür auf. Wenn sie hinein ginge, würde sie ihr Einverständnis erneuern. Dieser Nicht-Ort würde ein unwiderruflicher Teil ihrer Biografie werden, dachte sie und dann malte sie sich aus, wie sie stritten. Er würde aufbrausen. Damals, würde er sagen, damals wäre es für sie auch in Ordnung gewesen. Ob sie es noch wisse, als sie an Weihnachten einfach in dieses Trucker-Restaurant gefahren wären, weil sie nichts zu essen im Haus gehabt hätten. Und ihre Verlobung hatten sie auch dort gefeiert und nun, nun stelle sie diese Ansprüche.
Sie drehte sich zur Autobahn um. Ein Lkw nahm gerade Anlauf für die kommende Steigung. Sie sah ihm nach.

Astrid Hammerthaler: Rohe Weihnacht, Streetart

Dörte Schmidt: bärtig
Matthias Delbrück: Morgenlicht
Der Abend des 16. Dezember 2015 begann früh und dunkel. Stefanie Stamitz, 39 Jahre alt, stand vor der dunkelbraunen Tür ihrer Wohnung im dauergelüfteten Treppenhaus in der Mannheimer Neckarstadt. Sie war Altenpflegerin, seit vielen Jahren Chorsängerin und seit einigen alleinstehend. Eine Woche zuvor hatte das Time Magazine Angela Merkel zur Person of the Year gemacht, noch eine Woche früher waren bei einem Anschlag auf eine Weihnachtsfeier in San Bernadino/Kalifornien 16 Menschen einschließlich der beiden Täter ums Leben gekommen. Am späteren Abend dieses Tages würde die letzte Ausgabe von TV total laufen. Vorher jedoch, um 19 Uhr, probte Stefanies Kirchenchor. Weswegen sie jetzt noch einmal überprüfte, ob ihre Wohnungstür auch zweimal abgeschlossen war, und dann durch das grünlich gestrichene Treppenhaus, wo es nach Kümmel roch, hinunter zur Straße ging. Draußen– links schauen, rechts schauen, links schauen– überquerte sie die Fahrbahn in Richtung des Gemeindezentrums gegenüber. Rissiger Schnee nieselte auf zu glattes Kopfsteinpflaster. Die Klinkerfassade des kirchlichen Gebäudes glänzte nicht sehr im gelben Natriumlicht der Straßenlaternen, da der viel zu hohe Kirschlorbeer zwischen Grünstreifen und Eingangsbereich fast alles abschattete. Drinnen, im großen Mehrzwecksaal, brachte Stefanie sich mittwochs und freitags in das Sangesleben ihres Stadtteils ein. Denn Singen war das eine, was sie wirklich von Herzen gerne tat.
Heute stand die Generalprobe für das alljährliche Weihnachtskonzert am vierten Advent an. Das Programm listete » Brich an, du schönes Morgenlicht « von Johann Sebastian Bach und ein Chorwerk von Mendelssohn auf, dazu die drei Weihnachtslieder, die nun wirklich jeder kennt. Stefanie sang Alt, sie bildete eine, ja eigentlich die Stütze des weiblichen Klangkörpers. Dennoch oder eher deswegen stand sie nie vorne, sondern immer in der letzten Reihe. Um die übrigen, weniger begabten Altistinnen vor ihr auf Linie zu halten. Einige von ihnen trafen sich mit den Frauen vom zweiten Sopran zum Kartenspielen oder Kochen, wozu sie dann keine Stütze benötigten.
Von ihrem Platz am hinteren Ende der Bühne blickte Stefanie auf die schon gestellten, aber heute noch leeren Stuhlreihen. Und auf den überdimensionierten, bunt geschmückten Weihnachtsbaum. Ihre Nachbarinnen in der Altstimme, Frau Wohlgelegen und Frau Piqué, erschienen neben ihr, beide hatten offenbar bis gerade eben Weihnachtseinkäufe gemacht. Sie murmelten etwas wie »‘n Owwend« und nahmen links neben Stefanie Platz. Dabei sahen sie wie immer kurz an ihr hinauf und hinunter, als erwarteten sie, etwas anderes zu sehen. Stefanie war groß und nicht gerade hager, sie kleidete sich sorgfältig und unauffällig: der graugrün gemusterte Rock und eine dazu sehr passende Bluse mit Dreiviertelarm. Fußfreundliche Schuhe. Das etwas arg bunte Halstuch in den Chorvereinsfarben. Alles in allem eher ein Aussehen als ein Look.
Erst einige Minuten nach dem offiziellen Probenbeginn füllte sich die Bühne mit den Sängerinnen und Sängern, die in der Regel mehr Termine im Kalender hatten als Stefanie. Als das Geraschel und Getuschel verebbte und alle wie gewohnt im großen Halbkreis standen, beugte sich auf ihrer rechten Seite Herr Kranich vom Bass herüber. Er roch nach Butterbrot mit Blutwurst und trug ein rotnasiges Rentier auf seinem Pullover:
»Frau Stamitz, guten Abend. Wie geht’s dem geschätzten Rücken? Ich sag’s Ihnen gern noch mal – der Doktor Stehgreif mit seinen Knierettern und dem neuen MRT hat mir so geholfen!«
»Danke, Herr Kranich.« Stefanie mochte ihn nicht sehr, aber immer noch lieber als die meisten anderen Männerstimmen. »Wissen Sie, als ich klein war, haben mich meine Eltern immer zum Ballett geschickt. Wegen meiner Haltung …«
In diesem Moment klopfte Friedrich Feld, der korpulente Chorleiter, mit seinem Plastiktaktstöckchen auf das Pult und rief ohne weitere Begrüßung die Bässe und Tenöre auf, das erste Weihnachtslied anzustimmen, Takt 17 beim Segno-Zeichen. Kranich weitete seinen Mund zum Singen und wandte sich ab.
»Geholfen hat mir das Geturne damals kein bisschen«, überlegte Stefanie für sich. »Ebenso wenig das Tai-Chi an der Altenpflegeschule. Ich bin halt einfach kein Rückenmensch.«
Vielmehr hielt sie sich einfach immer irgendwie aufrecht. Auch jetzt ignorierte sie ihre quengelnden Muskeln und Nerven. Das konnte sie, denn sie ging innerlich bei den Tenören mit und war allein davon wie gebannt. Hätte sie in Saallautstärke mitgesungen, wäre das für die hohen Herrenstimmen hilfreich gewesen. Das wusste sie selbst, aber auch, dass es am Ende doch keinen Unterschied machen würde.

Dörte Schmidt: drei und heilig
Nach dem ersten Durchgang mit Tenor und Bass rief Herr Kranich, während die Wohlgelegen und die Piqué angestrengt nach vorne blickten: »Gut klingt’s, nicht wahr? So wird es himmlisch am Sonntag!« Er war sich offenbar keiner sanglichen Schwächen bei seinen Männern bewusst.
Friedrich Feld fiel die vergessene Begrüßung ein: »Ja, ‘n Abend dann auch allerseits. Glauben Sie nicht, dass das heute noch nicht zählen würde. Generalprobe ist Pflicht, Auftritt ist Kür. Jetzt Bach.«
Stefanie trug diesen Choral seit Langem im Herzen. Sie brauchte die Noten eigentlich gar nicht, dennoch hielt sie die Blätter pflichtschuldig in ihren selten gestreichelten Händen.
» Brich an … « –
Die Töne formten sich zwischen Stefanies Stimmlippen, strichen durch die Ansatzräume unter dem Gaumensegel hindurch und schwangen sich schließlich zwischen Zunge und Zähnen ins Freie hinaus. Alles in ihr fand plötzlich seinen Platz: Bandscheiben, Hormone, Kopf, Seele und Kehle verschmolzen in eine intakte integrale Klangtraumfigur, strahlend klar …
» … du schönes Morgenlicht! «
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