»Oh, du Fröhliche«, beschallten die Lautsprecher des Kaufhauses das Treiben und endlich sah Gottessohn, warum sie alle gemeinsam hier anstanden. Inmitten der Abteilung befand sich ein goldener Sessel auf einem Podest. Dort thronte ein großer Mann mit langem weißem Bart, dessen rot-weiße Kleidung den Körper darunter vermutlich in Schweiß baden ließ. Neben ihm stand eine Pyramide aus eingepackten Geschenken, fast so groß wie der Sitzende. Hinter dem Stuhl wippte auf den Zehenspitzen eine junge Frau, schön anzusehen, wie Jesus fand, mit blondem welligem Haar und zwei gebastelten Flügeln am Rücken klebend. Die Frau lächelte unentwegt und trug wie Jesus ein weißes Leinenkleid, allerdings ließ ihres an Dekolleté und Beinen wesentlich mehr frische Brise zu als bei Jesus.
Die Mutter, die vor dem Gottessohn stand, schob ihr Kind die Stufen zum Thron hinauf. Der kleine Junge knetete an gestreckten Armen den Saum seines Mantels und ließ den Stoff auch nicht los, als der bärtige Mann ihn unter die Achseln griff und auf seinem Schoß platzierte. Jesus bemerkte, dass der Kleine weinen wollte und den Blick seiner Mutter suchte. Jesus trat vor und suchte ebenfalls den Augenkontakt zu ihr. Die Mutter fuchtelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum und begann die Mundwinkel nach oben zu ziehen und ihre Zähne zu zeigen, als wäre ihr ausgestreckter Zeigefinger ein Stift, der ihr ein Lächeln auf das Antlitz malen könnte. Der Junge versuchte, die Befehle zu befolgen. Seine Wangen zuckten, und Jesus bemühte sich gleich mit, sah abwechselnd zu Mutter und Kind und probte mit einem verzogenen Gesicht ein Lächeln, während er wetteiferte, die Anweisungen der Mutter schneller umzusetzen als ihr Kind. Die Frau ließ abrupt ihre Hand sinken, zog die Augenbrauen zusammen und die Stirn kraus, als sie in dem Mann im Nachthemd einen strebsamen Schüler erkannte.
Beim Jungen erschien irgendwann auf seinem Gesicht etwas, das wie eine Mischung aus Zähnezusammenbeißen und Weinkrampfverhindern aussah. Dem hünenhaften Mann auf dem goldenen Sessel schien das zu genügen.
»Na, mein Kind, sagte er, »warst du auch immer brav?« Der Kleine nickte. »Hast du dir auch etwas beim Christkind gewünscht?« Er nickte erneut.
»Einen Action-Hero-Blackmaster.« Die Frau mit den Flügeln hinter dem Mann auf dem Thron lächelte noch mehr, als wolle sie einem Zahnarzt beweisen, sie habe keine Paradentose und zeigte der Mutter die Richtung zu den Action-Heroes-Verkaufsregalen.
»Und auch etwas, was man nicht kaufen kann?«, fragte der Bärtige erneut und der Junge schien erschrocken, als habe man ihm gerade in die Seele geblickt. »Flüstere es mir einfach ins Ohr«, ermutigte der Mann den Kleinen, und das Kind beugte sich vor das geneigte Haupt des Erwachsenen und flüsterte und flüsterte. Jesus konnte erkennen, dass der Engelsfrau die Wangenmuskeln vom Lächeln wehtaten. Die Mutter beugte den Kopf vor, das Ohr dem Podest zugewandt und auch Jesus tat es unbewusst, verstand aber nichts außer engagiertem Gemurmel. Der Mann in Rot sagte nur immer »Hm« und »So, so«. Manchmal war sich Jesus nicht sicher, ob er nicht unter seinem Bart grinste, aber irgendwann wurde die Frau mit den gebastelten Flügeln ungeduldig, nahm ein Geschenk von der Pyramide, drückte es dem Jungen in dem Arm, der überrascht aufsprang, das Päckchen nahm und zu seiner Mutter lief.
Jesus betrat unter empörtem Gemurmel das Podest. Dass Gemurmel empört klang, das kannte der Gottessohn nur zu gut aus der Vergangenheit. Als er sich auf das Knie des Mannes setzen wollte, zog der es weg, und der Heiland plumpste auf die Erde und blieb unten sitzen. Den Menschen hat er seinerzeit solch ein Verhalten als Demut erklärt, aber wenn Jesus ehrlich war, hatte es inzwischen etwas mit seinen Bandscheiben zu tun, warum er nicht gleich wieder aufstand.
»Wer bist du?«, fragte er den bärtigen Mann.
»Verschwinde, das ist hier für Kinder und nicht für Freaks.«
»Ich bin Jesus.«
»Sag ich doch. Freak.«
»Wer willst du denn sein?«
»Ich bin der Weihnachtsmann und nun verschwinde.«
Jesus schüttelte den Kopf und versuchte aufzustehen.
»Den Weihnachtsmann gibt es doch gar nicht.«
Die engelsgleiche Frau half ihm hoch. Er lächelte sie an. »Und wer bist du?« Sie lächelte zurück oder immer noch. Das konnte er nicht unterscheiden.
»Ich bin das Christkind!«, fistelte sie, und ihre Stimme klang so, als hätte sie gerade etwas sehr Saures gegessen und das passte nicht zu ihrem Lächeln.
»Das ist doch Quatsch!«, empörte sich Jesus. »Ich bin das Christkind! Jesus! Niemand sonst!« Und während er brüllte, wich die junge Frau zurück. Ihr erschrockenes Gesicht unterschied sich nicht sehr von ihrem lächelnden, und sie stolperte rücklings von dem Podest, währen ihre welligen blonden Strähnen vor dem Gesicht flatterten. Die gebastelten Flügel dämpften ihren Sturz. Mütter eilten ihr zur Hilfe, Kinder weinten, und Jesus stampfte geräuscharm mit seinen Sandalen auf. Die Männer vom Sicherheitsdienst eilten herbei, aber der Weihnachtsmann, der die Männer um einen Kopf überragte, rief: »Ich mach das«, hakte Jesus unter und zog ihn aus der Abteilung in das angrenzende Treppenhaus, das nur in Notfällen genutzt wurde. Jesus ließ es geschehen, ließ er doch in der Vergangenheit schon ganz andere Dinge geschehen und während er vom vermeintlichen Weihnachtsmann von dannen gezerrt wurde, beklagte er die Undankbarkeit der Menschen. Beim Aufstemmen der Feuerschutztür verhakte sich der Bart des Mannes an einem Metallbügel, und das Gummiband an seinem Hinterkopf, das seine weißen Kinnhaare hielt, spannte sich. Jesus stoppte mit dem Lamentieren über die menschlichen Abgründe und schaute ihn verdutzt an.
»Du bist nicht der Weihnachtsmann!«, stellte er überflüssigerweise fest.
Der Mann seufzte und antworte: »Ja, den gibt es ja auch gar nicht.«
Im Treppenhaus setzten sich beide erschöpft auf eine Stufe der Treppe, die eine Etage höher führte.
»Ein Königreich für einen Whisky«, murmelte der falsche Weihnachtsmann und rieb sich mit dem Ärmel über dem Mund die künstlichen Bartflusen ab.
Ein Stockwerk über ihnen hörten sie ein dumpfes Klopfen und eine kratzige Stimme unverständliche Dinge rufen. Die Männer schauten kurz nach oben, waren aber zu sehr mit sich und ihrer Erschöpfung beschäftigt. Der hünenhafte Kerl bot Jesus eine Zigarette an, aber der winkte ab, wollte nicht in Versuchung geführt werden. Der Bart lag nun auf den Knien des Mannes, und Jesus betrachtete sein Gesicht von der Seite.
»Dich kenne ich doch! Wer bist du wirklich?«, und er kreuzte vorsichtshalber die Arme vor seiner Brust, weil er die Antwort erahnte.
Der Angesprochene seufzte, nahm einen Zug aus der Zigarette und blies Ringe in die Luft, die für den Hauch einer Sekunde kleine Hörner hatten.
»Ich bin der Teufel. Nenn’ mich Luzifer. Das klingt eleganter. Gott hat mich aus dem Himmel geworfen.«
Jesus schaute den Rauchgebilden nach.
»Das klingt nach Vater. Er hat manchmal seltsame Ideen.« Jesus betrachtete die Male an seinen Handinnenflächen. »Und was soll die Maskerade hier?«, fragte er und nahm Luzifer die Zigarette aus der Hand und inhalierte einen tiefen Zug.
»Recherche«, erklärte Luzifer. »Wenn ich mich den jungen Menschen und ihren Wünschen widme, kann ich die Versuchungen gezielter ansetzen und die Sünder von morgen dingfest machen. Das ist investigative Höllenarbeit. Eine Investition in die Zukunft!« Er nahm Jesus wieder die Zigarette aus dem Mund. »Irgendwo hatte ich was zu trinken …«, nuschelte er und rieb sich beim Inhalieren des Rauches die Schläfen.
»Darf ich auch mal?«, fragte Jesus und zeigte auf den Bart.
»Bitte«, antwortete Luzifer, »mir reicht’s für heute. Ich hatte irgendwo … ach egal.« Er erhob sich, ließ die Fingergelenke an gestreckten Armen knacken, und reichte dem Sohn Gottes die Hand, um ihm aufzuhelfen. »Oben habe ich einen todschicken Anzug in der Herrenabteilung entdeckt. Rot kann ich nicht mehr sehen«, sprach der Teufel, pellte sich aus dem Kostüm und half Jesus beim Bekleiden.
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