Für Luise
Matthias Ehlert
Ein pandemisches Experiment
2022
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)
Themenreihe »update gesellschaft«
hrsg. von Matthias Eckoldt
Umschlagentwurf: B. Charlotte Ulrich
Redaktion: Uli Wetz
Layout und Satz: Heinrich Eiermann
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Erste Auflage, 2022
ISBN 978-3-8497-0426-1 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8360-0 (ePUB)
© 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag
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Prolog
Kafkas Feierabend
Büro ist Krieg
Entgrenzung im Großraumbüro
Die Mobilmachung
Wir werden agil
Abschied vom Boss
Die »Zoomutung« und andere Schattenseiten
Ist das noch Arbeit oder schon Freizeit?
Epilog
Noch zu Beginn der 2020er-Jahre haftete dem Begriff »Homeoffice« in der Firma, in der ich arbeite, etwas Bemitleidenswertes, wenn nicht gar Halbseidenes an. Mit »Viele Grüße aus dem Homeoffice« verabschiedete sich etwa eine unserer langjährigen Mitarbeiterinnen, die den Umzug in eine andere Stadt und neue Büroräume nicht mitgemacht hatte, stets in ihren E-Mails. Allen war bewusst, dass sie damit in erster Linie Anteilnahme erheischen wollte. Ich sitze hier zu Hause am Computer, war der Subtext ihrer Botschaft, und bin abgeschnitten von jeglicher Kommunikation. Bitte vergesst mich nicht, schanzt mir Aufgaben zu, haltet mich auf dem Laufenden!
Erhört wurden diese steten Hilferufe nach Aufmerksamkeit so gut wie nie. Dafür war einfach keine Zeit angesichts der beständig neuen Herausforderungen des Büroalltags. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, sie per Zoom in die wöchentlichen Redaktionssitzungen einzubinden oder für ihre Vorschläge und Ideen ein der Zusammenarbeit dienliches Slack-Tool einzurichten. Wenn sie Glück hatte, bekam sie später von jemand ihr Wohlgesinntem am Telefon eine Zusammenfassung des in der Konferenz Besprochenen präsentiert. An ihrer Situation des Außenvor-Seins änderte das wenig bis gar nichts. Es war ganz klar: Wer keinen Zugang zum Büro und seiner hermetischen Kommunikationswelt hat, der gehört im eigentlichen Sinne nicht mehr dazu. Der ist kein wirklicher Angestellter 1mehr, selbst wenn er noch vom Unternehmen bezahlt wird.
Etwas anders gelagert waren die Absichten, mit denen die angestellten Kollegen mit festem Büroarbeitsplatz den Begriff »Homeoffice« zu jener Zeit verwendeten. Wenn sie, meist etwas zu forsch, morgens per E-Mail oder am Telefon verkündeten: »Heute mache ich mal Homeoffice«, signalisierte das eine kurzfristige Abwesenheit, für die man nicht gewillt war, wertvolle Urlaubstage herzugeben. Die Gründe für solche spontanen Homeoffice-Tage konnten vielfältiger Natur sein und wurden meist nicht direkt angesprochen: Ein ungünstiger Handwerkertermin (»Wir kommen zwischen 8 und 12«), ein nicht rechtzeitig fertiggestellter Text, streikende Verkehrsbetriebe, eine durchzechte Nacht oder ein plötzlich durchbrechender Freiheitswille (»Nein, ich lasse mich heute nicht an der Kette ins Büro zerren«).
Den Homeoffice-Tagen lag also immer eine Art Ausnahmezustand zugrunde, die an der ansonsten gültigen Normalität und Notwendigkeit, der Präsenz im Büro, keinerlei Zweifel aufkommen ließ. Entsprechend akzeptierten die Vorgesetzten solche Ansagen in der Regel schulterzuckend, solange nicht an der stillen Vereinbarung gerüttelt wurde, diesen Joker des Zu-Hause-Bleibens nicht allzu oft zu ziehen. Niemals allerdings wäre es akzeptiert worden, hätte ein Kollege am Freitag verkündet: »Die nächste Woche mache ich Homeoffice.« Auch wenn er glaubwürdig versichert hätte, sein Arbeitspensum genauso gewissenhaft wie im Büro zu erledigen, ein Augenrollen und heftiges Kopfschütteln der Chefin wären ihm sicher gewesen. Um solch einen extravaganten Wunsch durchzusetzen, hätte er am Ende einen Kranken- oder Urlaubsschein gebraucht.
Wie grundverschieden ist hingegen meine Arbeitswirklichkeit heute! Seit die Corona-Pandemie die Welt im Würgegriff hält, habe ich viele meiner Kollegen nicht mehr leibhaftig gesehen. Von einem Tag auf den anderen verschwanden sie im Homeoffice und haben es bis heute nicht wieder verlassen. Wir begegnen uns nun nicht mehr auf dem Flur oder im Fahrstuhl, beim Mittagessen oder bei Meetings, sondern ausschließlich auf dem Bildschirm. Auf über Microsoft Teams eingestellten Videokonferenzen, ein- oder zweimal die Woche. Das Produkt, das wir herstellen, ein Magazin über Kunst und den Kunstmarkt, ist das Gleiche geblieben, aber die Bedingungen, unter denen es entsteht, haben sich radikal verändert.
Eine ganz ähnliche Erfahrung haben viele Angestellte in Deutschland und der westlichen Welt in jüngster Zeit gemacht. Man geht davon aus, dass seit dem ersten Lockdown etwa 30 Prozent der Erwerbstätigen in der Bundesrepublik dauerhaft im Homeoffice arbeiten. Bei rund 45 Millionen Beschäftigten ist das eine stolze Zahl von rund 13,5 Millionen. Laut der Berufe-Studie 2020 der im deutschen Südwesten beheimateten HDI-Versicherung sind in dieser Zeit etwa 28 Prozent der berufstätigen Baden-Württemberger und 33 Prozent der berufstätigen Rheinland-Pfälzer ins Homeoffice gewechselt.
Studien vor Corona, wie sie etwa das ZEW, das Mannheimer Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, und das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung seit 2012 alle zwei Jahre durchgeführt hatten, stellten damals hingegen nur einen ausgesprochen langsam wachsenden Anteil des Homeoffice an der allgemeinen Beschäftigung fest. Das verwunderte etwas angesichts der im Umlauf befindlichen kühnen New-Work-Visionen, denen gern mit Bildern von entspannt an einem Karibikstrand ihren Laptop aufklappenden jungen Angestellten Nachdruck verliehen wurde. Nüchtern kalkulierende Unternehmer und Führungskräfte ließen sich von solchen Utopien jedoch nicht becircen (»Wo lädt der seinen Akku auf? Gibt es am Strand überhaupt WLAN?«). Sie behielten ihre grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Homeoffice bei. Zu groß war die Furcht, die Kontrolle über ihre Angestellten zu verlieren und das bewährte »Management by Zuruf« der in Deutschland so fest verankerten Präsenzkultur aufgeben zu müssen.
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