Ein imposanter alter Glockenturm steht abseits auf einer Wiese, wahrscheinlich inmitten des früheren Friedhofs, zwischen dem Dorf und dem Weiler Mühlebach. Es handelt sich um den mittelalterlichen Turm der alten Pfarrkirche, die vom Eibach Ende des neunzehnten Jahrhunderts weggespült wurde.
Auch das wegen seiner Malereien und den Totentanzversen bis weit über die Kantonsgrenzen hinaus berühmte Beinhaus wurde bei dieser Überschwemmung verwüstet und wie die alte Pfarrkirche nie wieder aufgebaut. Dieses Beinhaus trug die Jahreszahl 1496. Die Totentanzbilder bestanden in der Darstellung vom Tanz des Todes mit den Lebenden, wobei der Tod selbst als eine Art Gottesbote Menschen jeden Alters und Standes zum gemeinsamen Tanz auffordert.
Was die Ansicht der ganzen Landschaft am meisten stört und beeinträchtigt, ist der See, der eigentlich ein Stausee ist und auch als solcher genutzt wird. Das heisst, dass er im Winter abgesenkt wird. So idyllisch er sich im Sommer mit der Spiegelung der umliegenden Berge und den teilweise bewaldeten Ufern dem Auge darbietet, so brutal und hässlich zeigt er sich im Frühling und Herbst, wenn der Wasserstand täglich sinkt und die verödeten, schlammigbraunen Uferpartien zutage treten. Dabei hat dieser See Geschichte und birgt unsägliche Geheimnisse. Man sagte mir, er sei über hundert Meter tief, was ich zwar bezweifle, doch sicher ist er ein Überbleibsel aus der Eiszeit, entstanden in einer tiefen Spalte. Um ihn ranken sich mythische Sagen und allerlei Geschichten.
Der Ätti, der sich in den Mythen und Mären seiner Heimat bestens auskannte, wusste wohl über jeden Ort, jede Alp und jeden Berg im Obwaldnerland eine Sage oder Geschichte zu erzählen. Da erschienen oft die alten Götter in der Gestalt der Elemente, der Riesen, Hexer oder Zwerge, wunderbare Tiere trieben ihr Unwesen, oder fremdartige Wesen suchten die Sterblichen heim, belohnten oder bestraften sie oder verrichteten allerlei Wunderliches. Doch nichts schildert den Untergang der alten Götter- und Asenwelt eindrücklicher als die Sage vom Lungernsee.
Nach Ättis Erzählung lag der Wasserspiegel dieses Alpensees in uralten Zeiten viel tiefer als heute. Es muss dies die Zeit gewesen sein, als noch Wilde und Bergmandli auf den Alpen und im Hochwald hausten, die oft den Bauern und Älplern bei ihrer harten Arbeit zur Hand gingen und sogar ihre Tiere besorgten. Die Talleute waren damals noch Heiden, und Lungern hiess auch noch nicht so, sondern Lugarun, benannt nach dem Gott Lug, dem die Bewohner opferten und den sie als das höchste göttliche Wesen ehrten. Seine Weihestätte lag auf einem Inselchen mitten im See in einem heiligen Hain; auf dem Altarstein, der von jahrhundertealten Baumriesen umgeben war, sollen sogar Menschen geopfert worden sein. Das behauptete zumindest mein Grossvater, dabei gestikulierte er vielsagend mit den runzligen Händen in der Luft herum, als gälte es, gerade jetzt einem armen Opfer die Kehle durchzuschneiden.
Schon damals betrieben die Talbewohner Landwirtschaft, sie hielten sich Schafe, Kühe und Ziegen, der See war umsäumt von saftigen Wiesen und fruchtbaren Feldern, die bis hinab ans glasklare Wasser reichten und die Menschen mit ihrem Ertrag reich und zufrieden leben liessen. Dabei waren der See und die Bäche reich an Fischen, die Wälder boten Wild im Überfluss. Doch das sollte sich plötzlich ändern. Eines schönen Tages stieg Sankt Beat, der Glaubensbote aus dem fernen Irland, vom Brünig her ins liebliche Tal hinab. Seit vielen Jahren schon hatte er im Haslital die Lehre des Christentums verbreitet und viele Heiden dort zum wahren Glauben bekehrt. Nun war er schon fast ein Greis, mühsam fiel ihm der weite Weg von seiner Behausung in der Höhle am Thunersee bis hierher an diesen Ort, wo er Labsal und Erfrischung zu finden hoffte. Doch erst wollte er dem Volke Gottes Wort verkünden, drüben auf dem Inselchen in ihrem heiligen Hain wollte er predigen und Zeugnis ablegen vom Leben Christi und seiner Erlösung. Als er nun in die Siedlung kam und am Ufer des Sees einen Fischer antraf, bat er ihn, er möge ihn doch übersetzen in seinem Kahn, aufs Inselchen zum Götzenhain. Die Dorfbewohner aber, die seine Bitte mit anhörten, rotteten sich zusammen, sie weigerten sich sogar, dem Fremdling Gastrecht zu gewähren, sie piesackten den Glaubensboten, bewarfen ihn mit stinkenden toten Fischen, Steinen und Exkrementen so lange, bis er die Flucht ergriff und umkehrte, zurück den Berg hinauf, dem Brünig zu.
Oben über dem Dorf, wo nun das Burgchäppeli steht, sei er dann, von Erschöpfung, Hunger und Durst gequält, nach Atem ringend auf die Knie gesunken, er habe die Arme ausgebreitet und seinen Gott um Hilfe angefleht in seiner Not. Da habe sich das Firmament verfinstert, ein schweres Grollen vom Pilatusberg her habe man vernommen, Blitze zuckten, Donner grollte, und dann sei ein unheimliches Gewitter mit Sturm und schweren Regenböen über das Tal hereingebrochen, wie man es vorher noch nie erlebte. Der schäumende Wasserfall des Dundelbachs schwoll aufs Zehnfache an, spie weit hinaus über Wiesen und Matten, haushohe Steine rumpelten von den Flanken der Berge hinab ins Tal und verwüsteten die Felder, Bäche und Rinnsale stürzten sich mit verheerender Wucht von Hügeln und Hängen, eine Mure begrub das Dorf, der See füllte sich auf, und der Hain des Lug mitsamt der Insel, des Gottes Kultbild und den Menschen, die sich in ihrer Angst und Not dort versammelt hatten, versank in der Tiefe. So ging das schöne und reiche Lugarun unter, «und ich versichere dir», raunte der Ätti, «der Fluch des Sankt Beat hat seine Wirkung noch lange nicht verloren, bis heute noch ist er bemerkbar, auch wenn die Lungerer das nicht wahrhaben wollen». Vielsagend schaute er mich an, klopfte dann sein Pfeifchen aus und schaute hoch zum Himmel, wo sich, natürlich gerade jetzt, die dunklen Wolken türmten.
Die Obwaldner Schriftstellerin Rosalia Küchler-Ming, ursprünglich aus Lungern stammend und Tochter des Landammanns und Landarztes Dr. Peter Anton Ming, beschrieb in den Zwanzigerjahren des letzen Jahrhunderts die rührige Geschichte des Tales und der Talleute von Lungern und ihres Sees in einer Trilogie, die ich selbst als junger Spund noch gelesen habe, die aber gegenwärtig nicht mehr erhältlich ist. Hatte die Entwicklung doch meinem Grossvater und seiner Sage teilweise rechtgegeben, im neunzehnten Jahrhundert nämlich entbrannte um diesen See im Tal ein gehässiges Seilziehen, das sich im Laufe der Zeit fast zu einem währschaften Krieg entwickelte, da einige zwecks Landzuwachs und Ausbreitung ihrer Besitzstände eine Absenkung des Seespiegels anstrebten. Waren in diesem Hochtal doch gutes Weideland eine Rarität und höher gelegene Nutzflächen oft nur schwer zugänglich. So lag es auf der Hand, dass die Talgemeinschaft ein Durchstossen des Kaiserstuhls ins Auge fasste, um so den See abzusenken.
Die Befürworter dieses Projekts wurden «die Trockenen» genannt, es waren dies begreiflicherweise vor allem Viehzüchter, während ihre Gegner, die die altbewährte Alpwirtschaft vertraten, «die Nassen» hiessen. Ein Durchstich kam schliesslich dann allen Widerständen zum Trotz zustande, was unten in Giswil zu einer gewaltigen Überschwemmung führte, aber den Seespiegel wie vorausberechnet absinken liess. So weit absinken liess, dass das heilige Inselchen des Lug auf einmal wieder zum Vorschein kam und an den Ufern eine Menge neues Weideland entstand. Ein Umstand, der natürlich den Wohlstand der Viehzüchter in der Gemeinde beträchtlich steigerte, was aber wiederum zu Neid und allerlei Geplänkel Anlass gab. Das politische Gezänk und die Folgen dieser Seeabsenkung bilden das Hauptthema der literarischen Arbeit von Rosalia Küchler-Ming.
Doch irrt man sich gewaltig, wenn man denkt, dass damit die Geschichte der Lungerer und ihres Sees zu Ende sei. Die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts waren für Bauern und Viehzüchter harte Zeiten. Der Zerfall der Preise für Milch- und Agrarprodukte bewirkte eine Krise, die vor allem die Berglandwirtschaft hart traf. Durch den hohen Milchpreis zur Zeit des Ersten Weltkriegs verblendet, hatten viele Bauern ihre Viehbestände aufgestockt und sich dadurch verschuldet. Nun bekamen sie auf einmal für den Liter Milch, der vor kurzem noch 38 Rappen galt, nur noch 20 Rappen, was für viele den Ruin bedeutete. So emigrierten verarmte Bauernfamilien aus der Innerschweiz in die Städte oder gar nach Übersee, hauptsächlich nach Kalifornien oder Brasilien.
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