In ihrem Haus angekommen, gewahrte ich den langen Lulatsch, den Soldaten aus Mama Frühs Küche, man setzte sich nach viel Palaver und Gelache zu Tisch und ass, was aus der Küche aufgetragen wurde, Suppe und Salat, Kartoffelstock und Schweinebraten. Ich hatte keinen Appetit, ich baute mir aus Kartoffelstock einen kleinen Stausee und füllte ihn mit Sauce. Die Frau schnitt mir das Fleisch in mundgerechte Stücke und erklärte mir, ich bleibe nun immer da, bei ihr, sie sei nun meine Mutter. Ich weinte, meine Tränen fielen in den Saucensee, sie vermischten sich mit dem Randensalat, doch niemand schien sich darum zu kümmern. Die Erwachsenen tranken Veltliner, assen, schwatzten und lachten.
Ich weinte zwei Wochen lang, jeden Abend vor dem Einschlafen, bis die Müdigkeit und Erschöpfung meine Tränen versiegen liessen. Natürlich weinte ich nicht den ganzen Tag. Nur abends vor dem Einschlafen, wenn mich niemand sah.
Übrigens gab es zum Weinen gar keinen Grund, mal abgesehen von der Tatsache, dass ich meine Familie verloren hatte, meine Gespielen, dass ich nun auf einmal allein war. Dabei war ich ja gar nicht allein, ich hatte nun einfach eine neue Familie bekommen, doch das war mir damals noch gar nicht so bewusst. War Familie für mich bis anhin doch unsere kleine Lebensgemeinschaft mit Mama Früh und den Kindern, Schlupfchasper, Peterpfupf, Hansdampf und Jolifränzi, dann Meieli, die Freundin meiner ersten Kindertage.
Das alles kam mir dann jeweils am Abend in den Sinn, wenn ich ins Bett gebracht wurde, schlafen sollte, wenn die grosse Ruhe mich umgab in diesem Haus, wo nichts zu hören war als das Gemurmel aus der Küche, wo sie alle sassen und bei Most oder Kaffee Sachen besprachen, die mich nichts angingen.
Nicht, dass es bei Mama Früh in der Bäckerstrasse nun immer so schön, gut und harmonisch gewesen wäre, dem war beileibe nicht so. Hansdampf warf meinen Teddybären aus dem Fenster, wo er von einem Welti-Furrer-Lastwagen überfahren wurde und danach nicht mehr brummen konnte. Jolifränzi stahl meine Mundharmonika, die sich aber später in seinem Kopfkissen wiederfand. Ich pisste dem Schlupfchasper in den Süssmost, worauf ich eine Tracht Prügel bezog und drei Tagen lang nur Wasser zum Trinken bekam. Solche Sachen gehörten eben auch zu unserem Alltag, Hänseleien und Eifersucht, Streiche und Plagereien, Streit und Gekeife. Doch war ich stets überzeugt, ich brauchte keinen Vater und keine Mutter, nun hatte ich auf einmal Eltern, und mir war bewusst, irgendwie musste ich damit zurechtkommen.
Das war am Anfang gar nicht so einfach, nicht nur wegen der ungewohnten Umgebung, Muhheim halt, Bauernland, so weit das Auge reichte, und Kühe, die mich schon in aller Frühe mit dem Gebimmel ihrer Treicheln und Schellen weckten. Dabei waren meine Tage voll von Überraschungen, überall gab es Neues und Unbekanntes zu entdecken.
Als ich die Rinder und Kühe zum ersten Mal vor unserem Stubenfenster grasen sah, packte mich der Schrecken, so dass ich schnurstracks in die Küche floh und mich unter der Eckbank verkroch. Natürlich hatte ich schon vorher Kühe gesehen, von der Eisenbahn aus auf der Fahrt hierher, doch da waren sie nie so nahe, standen weit weg und grasten friedlich auf der Wiese. Doch hier schienen sie mir riesengross und furchterregend, die geblähten Leiber braun und massig. Die hornbewehrten Häupter drängten sich um einen Bottich, der voll Wasser direkt vor unserer Hauswand stand.
In der Küche sass ein Waldschrat, den sie alle Bini nannten, eigentlich hiess er Albin, von Zeit zu Zeit versorgte er das Vieh und half aus, wo er gerade gebraucht wurde. Er blies in den Milchkrug, wo sich ein dicker Nidelpelz gebildet hatte, schenkte sich dann Milch und Kaffee ein und lachte schallend. Meine Mutter röstete Kaffeebohnen, das ganze Haus stank danach, sie schalt mich und fand, ich solle mich doch nicht so anstellen, ich solle das Theater lassen. Scheinbar hatte niemand begriffen, warum ich mich unter dem Tisch verkroch. Joggeli, der Dackel, leistete mir Gesellschaft. Er stupste mich mit seiner feuchten Nase an, ich kraulte ihn hinter den schlappen Ohren und dachte nach.
«Der wird nie ein Bauer, da kannst du sicher sein», hörte ich den Bini zu Mutter sagen, die unablässig in ihren Kaffeebohnen rührte. Der Bini redete munter weiter, derweil er Brot und Käse futterte, über Galtigs, Rindli, Kälber und Kühe, über eine, die stierig wäre und zum Muni müsse, und über den Klauenschneider, der morgen komme.
Ich solle nun hervorkommen und nicht länger Maulaffen feilhalten, befand meine Mutter, ich könne mit dem Bini mit, der gehe nun zum Stall. Das Stallgebäude lag versteckt und vom Haus aus kaum sichtbar hinter einem buckligen Hügel. An der Hand von Bini stapfte ich eben später den Weg entlang und dachte über die Maulaffen nach, die ich nirgends sehen konnte, und über allerlei andere rätselhafte Dinge, die ich hier erlebte, das Leben mit den Tieren, die täglichen Rituale und Gebräuche, die fortan meinen Tag bestimmen sollten. Eines war mir klar, mit dem Herumhängen, Träumen und Spielen war es vorläufig wohl vorbei. Es gab immer etwas zu tun, man durfte nicht untätig sein.
Im Wechsel der Jahreszeiten, das lernte ich schnell, veränderten sich die Arbeiten. Die Menschen versorgten die Tiere, und die Tiere gaben den Menschen alles, was diese zum Leben nötig hatten. Jedes Lebewesen hatte hier seine Aufgabe: Der Hund bewachte das Haus, die Katze fing Mäuse, die Kühe gaben Milch, die Schweine Fleisch und Fett, die Hühner versorgten uns mit Eiern und die Bienen mit Honig. Kartoffeln wuchsen auf dem Acker und Früchte an den Bäumen, der Garten lieferte Gemüse und Beeren und der Wald Brennholz. Meine Mutter besorgte die Landwirtschaft und den Haushalt, der Vater war Zimmermann, er baute Häuser, Scheunen und Alphütten, war selten zu Hause, oft wochenlang im Militär. Ich konnte noch kaum mithelfen, doch einfach herumhängen und gar nichts tun durfte ich auch nicht. Es fanden sich immer kleine Arbeiten, die mir zufielen, wenn nicht, dann tat ich gut daran, mich aus dem Staub zu machen, ich durfte keinesfalls stören. Das «aus dem Staub machen» wurde mir zur zweiten Natur. Staub war für mich fürderhin überall da, wo sich Leute herumtrieben, die etwas von mir wollten.
An diesem Morgen, den ich mit Bini in der Scheune verbrachte, zeigte er mir alle Tiere, die ich bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Die Rinder, Kälber und Kühe grasten auf der Weide, waren also nicht im Stall, darüber war ich ganz froh. In einem abgegrenzten Teil des Stalles lebten die Schweine, es waren zwei Stück, auch sie suhlten sich zur Zeit draussen im Dreck in einem umzäunten Pferch. Vor denen hatte ich überhaupt keine Angst, man konnte ihnen den Rücken kraulen, sie grunzten zufrieden. Auch mit den Geissen freundete ich mich an, die alle hinter der Scheune grasten. Sie benahmen sich zutraulich, ich wurde neugierig beäugt und beschnuppert. Abgesondert vom Vieh, hatten auch sie einen eigenen Stallteil. Über der Tenne liess mich Bini dann seine Kammer sehen, mit Wänden aus Strohballen, mit einem Strohsack als Matratze, einer Pferdedecke aus Armeebeständen und einem Rosshaarkissen, das war sein ganzer Komfort.
In einem Stapel alter Zeitungen fand ich ein Leidzirkular, auf dessen blanker Hinterseite ich herrlich zeichnen konnte. Die Zeichnung brachte ich dann meiner Mutter heim, darauf war ein Tisch zu sehen, darunter lauter Maulaffen. Diese hatten grosse Mäuler, sie lachten mit gebleckten Zähnen, während sich ihre langen Schwänze unter dem Tisch hervorringelten.
Sie fand das aber gar nicht lustig, wenigstens mir gegenüber tat sie so. Später aber hörte ich, wie sie alle über meine Zeichnung lachten, als sie zusammen in der Küche beim Kaffee sassen. Ja, ja, ich weiss, es war das alles sicher nicht einfach, für mich nicht und für die Erwachsenen nicht, die sich um mich zu kümmern hatten. Mit Blicken des Unverstands wurde mir gar oft bedeutet, dass ich etwas falsch verstanden hatte, dass ich Verbotenes oder Verkehrtes tat.
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