Am nächsten Tag kehrte Anna Göldi ins Haus der Familie Tschudi zurück, um ihre wenigen Habseligkeiten abzuholen. Doktor Tschudi gab ihr die Kleider sowie ihre geringen Ersparnisse im Betrag von 16 Dublonen zurück. Das Geld vertraute sie Schlossermeister Rudolf Steinmüller und dessen Ehefrau Dorothea an. Mit den Eheleuten Steinmüller, die im Abläschquartier wohnten, war sie befreundet. Sie waren ihre Vertrauensleute. Bei ihnen hatte sie schon früher Rat geholt und Unterschlupf gefunden. Rudolf Steinmüller war vermögend und ein Verwandter von Johann Jakob Tschudi, dem Dienstherrn von Anna Göldi.
Der wirkliche Auslöser des Eklats Ende Oktober 1781 sowie der sofortigen Auflösung des Arbeitsverhältnisses von Anna Göldi liegt im Dunkeln. Von da an kursierten in Glarus Gerüchte, Anna Göldi sei von Doktor Tschudi schwanger geworden. Damit hätten sich beide wegen «verbotenen fleischlichen Umgangs» strafbar gemacht. Die Behörden setzten Ermittlungen in Gang und befragten erste Zeugen. Erst im weiteren Verlauf des Verfahrens berichteten die Eheleute Tschudi, Grund für das Zerwürfnis sei eine ganz andere Geschichte gewesen: Anna Göldi habe der zweitältesten Tochter Anna Maria Tschudi, genannt «Annamiggeli», Schaden zufügen wollen. Sie habe «Gufen», also Stecknadeln, in die Milchtasse der Achtjährigen gelegt.
Nachdem die Entlassung Anna Göldis aus dem Haus von Doktor Tschudi für einiges Aufsehen gesorgt hatte, verliess die in Ungnade gefallene Magd am 29. Oktober 1781 das Land Glarus und tauchte bei Bekannten in ihrer Heimat Sax im St. Galler Rheintal unter. Dort wähnte sie sich in Sicherheit und hoffte darauf, dass das leidige Kapitel bald abgeschlossen und vergessen sei. Auch die Familie Tschudi hoffte zunächst, die üblen Gerüchte und Anschuldigungen nähmen ein Ende, sobald Anna Göldi ausser Landes sei.
Doch Anna Göldi blieb nach ihrer Abreise aus dem Glarnerland das Tagesgespräch in der Bevölkerung. Das Gerücht, wonach Doktor Tschudi mit Anna Göldi eine aussereheliche Beziehung unterhalten und mit der Magd ein Kind gezeugt habe, hielt sich hartnäckig. Catharina Göldi aus dem Städtchen Werdenberg, mit Anna Göldi verwandt und von Beruf Hebamme, machte gegenüber den Glarner Behörden Aussagen, welche die Familie Tschudi in Aufregung versetzt haben müssen. Die Hebamme, vor deren Augen sich Anna Göldi einmal umgezogen habe, sagte, sie habe «sehr grosse Brüst und einen dicken Bauch» gehabt, woraus sie den Schluss gezogen habe, «die Anna seye schwanger». Jahre zuvor, als Anna Göldi schon einmal schwanger gewesen sei, habe sie auch so ausgesehen, gab Catharina Göldi zu Protokoll.
Zudem wurden Hinweise gemacht, dass sich Anna Göldi als werdende Mutter nach Strassburg abgesetzt habe, wie Jahre zuvor, als sie von Doktor Zwicky schwanger war. Hirschen-Wirt Klein in Weesen nährte dieses Gerücht durch seine Aussage zusätzlich. Laut Klein hatte ein Mann aus Mollis im Hirschen erzählt, er wisse, wo sich Anna Göldi aufhalte. Sie sei mit dem Boten Giezendanner übers Toggenburg nach Schmerikon gefahren. Dieser habe sie dort dem Berufskollegen von Rapperswil übergeben, der darauf eine Kutsche für die Weiterfahrt über Zürich nach Strassburg bereit gemacht habe. Zwar sollte sich diese Aussage als Falschmeldung herausstellen. Dennoch muss die Nachricht zu der Zeit, als Anna Göldi untergetaucht war, die Tschudis in Glarus aufgeschreckt haben. Sie hatten zu befürchten, dass Anna Göldi von auswärtigen Behörden aufgegriffen würde und vor ihnen ihre Sicht der Dinge ausbreiten könnte. Das wollten die Tschudis verhindern. Sie erkannten jetzt, diese Mutmassung drängt sich ernsthaft auf, dass es ein Fehler war, Anna Göldi aus dem Land Glarus reisen zu lassen.
Wenn Doktor Tschudi sein Gesicht wahren wollte, musste er handeln. Unmittelbar nach der Entlassung von Anna Göldi hatte er versucht, das Problem totzuschweigen und zur Tagesordnung überzugehen. Nun setzte er alles daran, die Magd zurückzuschaffen und zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu brauchte er die Unterstützung der Behörden, denen er selbst angehörte. Doktor Tschudi begab sich mit Verwandten und Freunden vor das Rathaus und verlangte vom Rat mit Nachdruck, dass er den Fall entschlossen an die Hand nehme. Die Drohung wirkte: Am 26. November 1781 fasste die Obrigkeit den Beschluss, «diese verruchte Dirne» ausfindig zu machen und verhaften zu lassen. Ein Läufer wurde mit einem Steckbrief nach Werdenberg losgeschickt, um Anna Göldi gefangen zu nehmen und ins Rathaus nach Glarus zu bringen.
Als Doktor Melchior Zwicky aus Mollis, der Vater des zweiten Kindes von Anna Göldi, erfuhr, welcher Gefahr seine frühere Geliebte ausgesetzt war, schickte er sofort den eigenen Läufer, Jost Spälti aus Netstal, nach Werdenberg. Er sollte Anna Göldi warnen und ihr zur Flucht raten. Damit handelte Zwicky nicht ganz uneigennützig: Er musste befürchten, dass seine bis dahin geheim gehaltene uneheliche Vaterschaft auffliegen könnte.
Zwickys Läufer führte seinen Auftrag schneller aus als der amtliche, der unverrichteter Dinge ins Glarnerland zurückkehrte. Dort überbrachte dieser der Obrigkeit immerhin eine brisante Nachricht: Er habe in Werdenberg Jost Spälti getroffen, der im Auftrag von Doktor Zwicky unterwegs gewesen sei. Die Obrigkeit liess den Molliser Arzt unverzüglich vorladen und wollte von ihm den Grund für seine Warnaktion erfahren. Zwicky sagte im Verhör, er habe Anna Göldi auf die behördliche Fahndung hinweisen wollen, weil seine Mutter in Sorge um das Schicksal der Magd gewesen sei. Von einem unehelichen Kind erwähnte er noch nichts.
Auch Schlosser Steinmüller wollte Anna Göldi warnen und sandte am 26. November 1781, also am Tag des obrigkeitlichen Beschlusses, ein Schreiben an sie samt dem ersparten Geld, das die Magd bei ihm in Glarus zur Verwahrung zurückgelassen hatte. Steinmüller ahnte die Gefahr und wollte das Geld schleunigst loswerden. In seinem Brief schrieb er: «Hier übersende Euch durch den Bott [Boten] die mir übergebenen 16 Toplonen.» Zudem teilte er ihr mit, dass Doktor Tschudi eine Fahndung gegen sie eingeleitet habe. «Ich warnen Euch als ein Ehrenmann, nehmt Euch wohl in Acht, dass Ihr nicht in Unglück komen; betet Gott um Verzeihung Eurer Sünden; thaut Bauss [Busse] in der Zeit, so wird Euch Gott der Allerhöchste erhören in der Noth.»
Die Behörden durchkreuzten seinen Plan und beschlagnahmten das Briefpaket, noch bevor es seine Adressatin erreichte. Im späteren Prozess wurden die beiden Warnaktionen ihren Urhebern angelastet. Sie wurden als Beweise dafür ausgelegt, dass Doktor Zwicky und Rudolf Steinmüller mit Anna Göldi unter einer Decke steckten.
Als Anna Göldi die Gefahr erkannte, ergriff sie erneut die Flucht und setzte sich unter dem falschen Namen Marie Sonderegger Richtung Bodensee ab. Ihr Fluchtweg führte von Rorschach über St. Gallen und das Appenzellerland ins Toggenburg nach Degersheim, wo sie im Wirtshaus Schäfli eine Stelle als Magd annahm. Dort verbrachte sie die letzten Wochen ihres Lebens in Freiheit.
Am 9. Februar 1782 erschien in der Zürcher Zeitung ein Steckbrief von Anna Göldi, unterzeichnet von der Regierungskanzlei des Landes Glarus. Sein Inhalt:
«Löblicher Stand Glarus, evangelischer Religion, anerbietet sich hiermit demjenigen, welche nachbeschrieben Anna Göldin entdecken, und der Justiz einbringen wird, Einhundert Cronenthaler Belohnung zu bezahlen; womit auch alle hohe und höhere Obrigkeiten und Dero nachgesetzte Amtsleuth ersucht werden, zu Gefangennehmung dieser Person all mögliche Hülfe zu leisten; zumahlen solche in hier eine ungeheure That, vermittelst geheimer und fast unbegreiflicher Beibringung einer Menge Gufen und anderen Gezeug gegen ein unschuldiges acht Jahre altes Kind verübet hat.
Anna Göldin, aus der Gemeind Sennwald, der Landvogthey hohen Sax und Forstek zugehörig, Zürchergebiets, ohngefähr 40 Jahr alt, dicker und grosser Gestalt, vollkommnen und rothschlechten (rötlichen) Angesichts, schwarzer Haaren und Augbrauen, hat graue etwas ungesunde Augen, welche meistens rothlecht aussehen, ihr Anschauen ist niedergeschlagen, und redet ihre Sennwälder Aussprach (Dialekt), trägt eine modenfarbne Jüppen, eine blaue und eine gestrichelte Schos, darunter eine blaue Schlingen- oder Schnäbeli-Gestalt, ein Damastenen grauen Tschopen [damasten: aus Baumwolle]), weis castorin Strümpf, ein schwarze Kappen, darunter ein weisses Häubli, und trägt ein schwarze Seidenbettlj [Handtasche].»
Читать дальше