Sie sehen, er ist sehr komplex.
Ja, es scheint sich um einen komplizierten jungen Mann zu handeln.
Genau. Kompliziert. Wollen Sie noch ein Espresso?
Tanner nickte.
Und jetzt ist er wieder einmal verschwunden?
Also, er hatte drei Tage frei und hat gesagt, dass er zu einem Freund nach die Stadt fahren will. Später haben wir bemerkt, dass er gar nicht bei Freund aufgetaucht ist, und sein Motorrad stand die ganze Zeit hinter dem Haus. Das haben wir aber erst vor zwei Tagen gesehen. Wir haben gedacht, dass er damit unterwegs ist.
Wie alt ist André?
Er ist gerade siebzehn geworden. Er ist jung.
Nimmt er Drogen?
Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Er raucht vielleicht Haschisch.
Wie alle jungen Leute, aber mehr weiß ich wirklich nicht.
Lieber Marnier, warum erzählen Sie das alles mir und nicht der Polizei?
Wollen Sie mich schrecken, Tanner?
Nein, aber sehen Sie, Marnier, eine Woche ist zu lang, um einfach die Augen zuzumachen. Und die Polizei verfügt über gewisse Kanäle. Zu den Spitälern, zum Beispiel, falls ihm irgendetwas zugestoßen ist. Wie gesagt, ich will Ihnen keine Angst machen, aber wenn Sie absolut keinen Hinweis haben, wo er sein könnte und wenn er sich diesmal überhaupt nicht meldet, dann könnte es doch sein, dass er in Schwierigkeiten steckt.
Ja, wahrscheinlich haben Sie Recht, Tanner.
Haben Sie denn schon alle seine Freunde gefragt, ob die vielleicht wissen, wo André steckt?
Ja, haben wir. Aber keine Resultat. Ich dachte, dass Sie, Tanner, vielleicht nachschauen könnten. Sie waren doch Polizist, stimmt es, oder?
Tanner hatte keine Lust, die Frage zu beantworten.
Hat André denn kein Mobiltelefon?
Doch. Aber er antwortet nicht.
Haben Sie schon sein Zimmer untersucht? Haben Sie Zugriff zu seinem Bankkonto? Weiß Ihre Schwester Bescheid? Gibt es auch einen Vater? Könnte er bei ihm sein? Trägt André Ausweispapiere bei sich? Haben Sie ein Foto von ihm, das wirklich etwas taugt?
Tanner ließ Marnier eine kleine Verschnaufpause.
Schauen Sie, Marnier, es mag jetzt etwas sehr nüchtern klingen, aber das sind in etwa die Fragen, die Sie den Behörden werden beantworten müssen. Noch etwas: Wer ist die Person, der er am meisten vertraut?
Marnier sah jetzt richtig unglücklich aus.
Wahrscheinlich das ist, äh, mich. Also ich. Glaube ich jedenfalls. Aber ich weiß ja auch nichts, merde!
Gut. Marnier. Ich kann eines für Sie machen. Ich werde mich sofort bei einem Freund bei der Polizei erkundigen, ob die was haben. Wenn nichts dabei rauskommt, machen Sie sofort eine Anzeige. Ist das klar?
Ja, das ist klar. Das machen wir.
Marnier trank in einem Zug das Glas Wasser aus. Seine Hände zitterten.
ZWEI
Es war noch tiefe Nacht, als das Telefon klingelte. Stöhnend nahm Tanner den Hörer ab.
Das kannst nur du sein, Michel! Wo brennt’s denn mitten in der Nacht?
Was heißt hier: mitten in der Nacht …!? Himmel Herrgott! Hat der Herr mich um etwas gebeten oder ich ihn? Wir von der Polizei können es uns nicht leisten, in den Tag hinein zu schlafen. Zudem muss ich ja arbeiten. Tag für Tag meine Brötchen verdienen. Und wenn du glaubst, ich hätte nicht jede Menge Wichtigeres zu tun, dann irrst du dich gewaltig!
Oh je, Michel! So früh am Morgen und bereits schlecht gelaunt?
Wie kommst du denn darauf, Tanner? Ich bin doch immer so.
Ja. Das stimmt auch wieder. Dickhäuter sind Morgen-, Mittag- und Abendmuffel.
Hey, Vorsicht. Ich habe abgenommen. Ganze zwanzig Kilo.
Ah ja, stimmt. Aber was sind zwanzig Kilo auf eine halbe Tonne?
Tanner, ich lege gleich auf, wenn du so weitermachst.
Nein, ist ja gut. Ich bin sehr stolz auf deine zwanzig Kilo.
Michel räusperte sich.
Von Tillieux haben wir nicht die Bohne einer Spur und auch keine Abgangsmeldung. War’s das?
Du drückst dich wieder einmal sehr kultiviert aus. Aber ich danke dir. Besonders, da du soviel andere Arbeit hast, du Armer. An was arbeitest du denn gerade? An einem neuen Konzept für deine Mittagsverpflegung?
Nein, du Idiot. Wir haben doch diese seltsamen Todesfälle in einem der städtischen Altersheime. Ach ja, wenn du mich schon fragst: Vielleicht könntest du mal einen Blick in die Akte –
Tanner unterbrach ihn.
Heute Abend. Punkt Acht. Bei mir. Im Smoking. Wir essen am weiß gedeckten Tisch. Wer weiß, vielleicht haben wir sogar zwei charmante Tischdamen. Und wenn du fünf Minuten zu spät kommst wie letztes Mal, schmeiße ich das Essen vor deinen Augen in den Abfall. Haben Sie mich verstanden, Herr Kommissar, Abteilung Leib und Leben?
Ay ay, Sir! Aber du weißt ja, man hat die Bezeichnung »Leib und Leben« abgeschafft. Wir sind jetzt eine stinknormale Mordkommission.
Wie schade. Ich finde »Leib und Leben« viel schöner.
Tanner legte auf.
Ach, dieser Michel!
Er legte sich noch einmal auf die Seite, wusste aber jetzt schon, dass er keinen Schlaf mehr finden würde.
Diese ewigen Anspielungen auf das Geld. Und dann wieder zu mir rennen, wenn er in seinem dämlichen Fall nicht weiterkommt. Typisch, typisch.
Tanner schlug die Decke zurück und beschloss, unter die Dusche zu gehen. Draußen war es noch dunkel, und er konnte nicht sehen, ob es erneut geschneit hatte oder ob der Schnee vielleicht schon wieder geschmolzen war. Er hatte in der Nacht eher das Gefühl gehabt, als würde es regnen.
Tanner stellte sich unter das warme Wasser und schloss die Augen.
Immer wieder das Geld. Michel konnte es einfach nicht lassen. Dabei war er selber schuld. Als Tanner durch seinen letzten Fall an ein kleines Vermögen geraten war, hatte er Michel einen Anteil geben wollen, doch der war zu stolz gewesen, es anzunehmen. Denn er hatte es nicht direkt vom Geldgeber persönlich angeboten bekommen. Was ja in seiner beruflichen Position auch gar nicht statthaft gewesen wäre. Es quasi als Geschenk von Tanner zu nehmen, wäre zwar legal, hätte jedoch für Michel die Bedeutung eines Almosens gehabt, wie er sich damals ausdrückte. Tanner hatte schließlich kapituliert und Michels Anteil auf einem Sperrkonto deponiert.
Er stieg aus der Dusche und trocknete sich ab.
Die Frage blieb die gleiche: War es nun positiv, dass Michel keine Informationen zu André Tillieux liefern konnte oder nicht?
Auf jeden Fall musste Marnier heute schleunigst zur Polizei gehen und offiziell eine Vermisstenmeldung erstatten. Nur so konnte die Maschinerie in Gang kommen. Immerhin war es, wenn man den heutigen Morgen mitrechnete, schon acht Tage her, seit der Junge verschwunden war.
Vielleicht sollte er, nach dem Frühstück und nach seinem Spaziergang, Marnier erneut im Restaurant einen Besuch abstatten und sich ein genaueres Bild über diesen jungen Mann verschaffen. Es konnte nicht schaden, in Form zu bleiben.
Für die Vorbereitung des Michelschen Gastmahls blieb ihm ja noch der ganze Nachmittag. Er nahm schon mal die Lammkeule aus dem Tiefkühler, denn er wollte sie nach dem Prinzip des langsamen Garens zubereiten. Und das konnte schon mal den halben Nachmittag in Anspruch nehmen.
Wie hatte Marnier seinen Neffen genannt? Ach ja: komplex. Was verbarg sich hinter diesem etwas allgemeinen Adjektiv? Sollte es vertuschen, dass Marnier ihn in Wirklichkeit nicht mochte? Oder dass ihm sein Wesen und Verhalten zutiefst fremd waren? Marnier hatte im Gespräch ziemlichen Wert darauf gelegt, dass von ihm selbst das Bild des liebevoll sorgenden Onkels entstand. Abgesehen davon sagte ihm sein Gefühl, dass der junge Mann tatsächlich in Schwierigkeiten steckte.
Wir werden sehen. Nur keine voreiligen Schlüsse ziehen. Das ist der Tod einer jeden Untersuchung.
Er griff zum Telefon und teilte Marnier mit, dass er bei der internen Befragung der Polizei nichts erfahren habe und dass Marnier jetzt dringend die Vermisstenanzeige aufgeben müsse. Marnier blieb sachlich und versprach, sofort zu handeln.
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