Danach bereitete Tanner sich betont ruhig sein Frühstück zu. Aber er kannte sich gut genug, um sich nichts vorzumachen. Der ewige Virus der Jagd hatte ihn wieder infiziert.
Als er sich auf seinen täglichen Spaziergang machte, begann eben gerade erst die Morgendämmerung. Es hatte tatsächlich nachts geregnet, der Schnee war größtenteils verschwunden, weswegen der Morgen dunkel, schwer und dumpf wirkte. Kein Vergleich mit dem schneehellen Tagwerden vom vorigen Tag. Viel freundlicher würde es heute wahrscheinlich auch nicht werden, denn am Himmel drängten sich bauchig schwarze Wolken. Einzig die Hügelkuppe entlang zog sich ein glitzernd heller Silberstreifen.
Die dunklen Zeichen an den Haustüren fielen Tanner erst nach einer Weile auf. Denn die ersten paar hundert Meter war er gegangen, ohne sich die Umgebung genauer anzusehen. Er machte den Spaziergang vom vorigen Tag in umgekehrte Richtung. Erst beim Haus, das direkt in der Haarnadelkurve stand, fiel ihm auf, dass jemand auf die beigefarbene Haustür ein dunkelrotes Zeichen gemalt hatte. Das Zeichen bedeckte etwa die Fläche von vier Männerhänden und war gestern bestimmt noch nicht dort gewesen, dawar er sich ganz sicher. Er blickte zu den anderen Häusern zurück und erkannte irritiert, dass alle Haustüren ein Zeichen in der gleichen Farbe trugen.
Verwundert setzte Tanner seinen Spaziergang die Eisenbahnschienen entlang fort. Beim Bahnhof weiter vorne hatte eben ein Zug gehalten, und es stiegen eine Handvoll Leute ein. Wahrscheinlich lauter Pendler, die in der Hauptstadt arbeiteten und hier wohnten. Vielleicht auch Schüler, die eine höhere Schule besuchten.
Als der Zug, noch in langsamer Fahrt, an ihm vorbeifuhr, hatte er das Gefühl, als starrten ihn die Leute durch die beschlagenen Scheiben seltsam an. Einzelne Hände wischten hektisch die Scheiben, um ihn besser zu sehen.
Irritiert schüttelte er den Kopf.
Ich bin heute einfach zu früh aufgestanden. Wer geht denn um diese Uhrzeit spazieren, noch bei dem Wetter? Kein Wunder, wenn mich die Leute wie eine Erscheinung anglotzen.
Bis auf weiteres begegneten ihm lauter Häuser, die sich ihm mit ihrer Rückseite präsentierten, so dass er nicht sehen konnte, ob die Zeichen sich bloß auf das verwahrloste Quartier beschränkten.
Innerhalb der nächsten halben Stunde steigerte sich sein Gang jedoch vom gemütlichen Gehen in ein atemloses Traben. Man konnte es nun beim besten Willen keinen Spaziergang mehr nennen. Kurze Zeit später war ihm klar, dass jemand in dieser Nacht auf sämtliche Haustüren des Dorfes Zeichen gemalt hatte. Genauer gesagt: nicht auf alle Türen. Es gab ein paar wenige Ausnahmen. Auch seine Haustür war nicht markiert. Beim Dorfbrunnen angekommen sah er, dass auch der Dorfladen verschont geblieben war.
Kurz entschlossen ging Tanner auf die Eingangstür zu.
Der Laden war leer, nicht einmal die Zwillinge waren zu sehen. Tanner wunderte sich, denn Solène und Solange ließen ihren Laden nie unbeaufsichtigt. Wenn sie mal kurz weggingen, schlossen sie normalerweise die Tür und hängten einen Zettel daran. Plötzlich hörte er im hinteren, für die Kundschaft nicht zugänglichen Bereich jemanden schluchzen.
Hallo? Solène? Solange? Ich bin’s, Tanner!
Einen Moment lang war es still, dann fiel etwas zu Boden. Tanner näherte sich dem Durchgang. Plötzlich stand Solange vor ihm, die Augen voller Tränen.
Ach, es ist schrecklich, Tanner. Wir fürchten uns alle. Ist an Ihrer Haustür auch so ein schreckliches Zeichen?
Nein, Solange. Es gibt aber noch andere Haustüren ohne Zeichen. Woher wissen Sie das?
Ich habe nachgeschaut, ganz einfach. Jetzt beruhigen Sie sich, Solange. Es wird sich alles klären. Setzen Sie sich erst mal auf diesen Stuhl.
Tanner nahm eine Packung Papiertaschentücher aus einem Regal, riss die Packung auf und reichte Solange eins.
Danke. Aber wissen Sie denn, was das zu bedeuten hat?
Nein, das weiß ich leider noch nicht. Aber wir werden es erfahren, da bin ich mir ganz sicher.
Aber die Zeichen bedeuten doch alle den Tod, nicht wahr?
So vorschnell sollten wir nicht urteilen, Solange. Warum sind Sie eigentlich allein im Laden? Wo ist denn Ihre Schwester?
Solène muss schnell eine Nachbarin nach Hause begleiten.
Warum denn das?
Sie hat sich plötzlich gefürchtet, alleine auf die Straße zu gehen.
Was für ein Unsinn. Fürchten Sie sich denn auch?
Fürchten nicht gerade, aber ein bisschen unheimlich finde ich es schon. Wer um alles in der Welt kann denn so etwas gemacht haben?
Das weiß ich natürlich auch nicht. Dumme Jungs wahrscheinlich, denen langweilig war.
Tanner gab sich alle Mühe, überzeugend zu sein, obwohl er seine eigene Behauptung ziemlich übermütig fand. In diesem Moment kam Solène zurück.
Ah, Monsieur tröstet unsere Solange. Störe ich?
Solange richtete sich sofort auf.
Spinnst du? Aber ich war froh, nicht mehr allein zu sein, ich gebe es zu.
Und wie erklären Sie sich, dass Ihre Haustür von diesen Schmierfinken verschont geblieben ist?
Guten Tag, Solène. Dafür habe ich keinerlei Erklärung. Meine Haustür ist aber nicht die einzige, die verschont wurde. Ihr Laden wurde auch ausgelassen.
Ja, klar. Da wohnt ja auch niemand.
Und die Kirche? Wer wohnt dort, Solène?
Was? Die Kirchentür haben die auch verschmiert? Schweinebande!
Warum denken Sie, dass es mehrere waren?
Weiß ich nicht. Aber immer wenn in dieser Gegend Unsinn gemacht wurde, steckte eine ganze Bande dahinter.
Was haben die denn so gemacht?
Ja, zum Beispiel das Feuer für den ersten August am Vorabend angezündet. Oder den Leuten die Fahrräder vertauscht. Oder dem Dorflehrer bei zehn verschiedenen Firmen Taxis bestellt.
Ich weiß nicht, ob das in dieselbe Kategorie fällt. Und ob es sich um eine Gruppe handelt, bezweifle ich.
Was glauben denn Sie, Herr Tanner?
Ich finde, die Zeichen haben eine eindeutige Handschrift. Es könnte sich sehr wohl um eine Einzelperson handeln. Aber das muss man natürlich näher untersuchen.
Solange blickte ihn mit großen Augen an. Dann zog Solène ihre Schwester vom Stuhl hoch.
Ja, ich glaube, die Polizei hat damit schon begonnen. Ein Streifenwagen ist soeben gekommen. Weiter vorne im Dorf. Die Gruber hat stellvertretend für alle Anzeige gegen unbekannt erstattet.
Na ja, dann ist ja alles in besten Händen. Warum ich eigentlich gekommen bin: Würden Sie mir die Ehre erweisen und heute Abend bei mir speisen? Wie dumm von mir, die bedruckten Einladungskarten mit Goldprägung habe ich jetzt prompt vergessen. Ein guter Freund aus einem befreundeten Kanton wird auch noch zu Gast sein. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie ja sagen würden.
Die Schwestern schauten sich einen Moment an. Solène antwortete für beide.
Selbstverständlich erweisen wir Ihnen die Ehre. Um wie viel Uhr?
Punkt acht, wenn ich bitten darf. Meine Adresse ist Ihnen ja bekannt. Ah, ja. Sie sind beide keine Vegetarier, äh, ich meine, Sie sind keine Vegetarierinnen, oder?
Diesmal war Solange schneller.
Gott bewahre, nein. Wir sind große Fleischanbeterinnen.
Dann verabschiedete man sich.
Wieder draußen auf der Straße, sah Tanner tatsächlich einen Streifenwagen. Die beiden Beamten liefen gerade von einem Hauseingang zurück zu ihrem Wagen.
Guten Tag, die Herren. Mein Name ist Tanner. Ich bin ein Freund und Berufskollege von Kommissar Michel. Sie untersuchen die Zeichen an den Haustüren?
Guten Tag. Wagner. Das hier ist mein Kollege Stoffel. Haben Sie uns etwa gerufen?
Nein, nein. Das war Frau Gruber von der Gemeindeverwaltung. Zudem ist meine Haustür eine der wenigen, die nicht bemalt wurde. Soweit ich gezählt habe, sind etwa sieben Türen im ganzen Dorf nicht bemalt.
Da haben Sie ja Glück gehabt.
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