SOMMERTRAUM
Alles schön ruhig und friedlich. Die Hälfte des Landes ist weg. Fühlt sich an wie Neunzehnhundert-Blumenkohl. Sommer! Du hast mich gelehrt, dich zu packen, wenn du endlich mal wieder zu Gast bist hierzulande. Dein magischer Zauber hält nur kurz und schon bist du wieder weg.
Ich entspanne auf einer orangefarbenen Luftmatratze. Der See liegt spiegelglatt und flimmernd vor mir. Die Sonne brennt mit voller Kraft herunter und spiegelt einen blauen, von gross geballten, schneeweissen Sommerwolken durchzogenen Himmel. Hinter mir entfernt sich langsam das schattige Wiesenufer mit seinen tief hängenden Trauerweiden. Mit dem Ufer bleibt auch das zurück, was mich dort umtreibt und beschäftigt. Je weiter ich in diesen See hineingleite, die Gerüche, die Farben und Geräusche aufnehme, desto fremder und unbegreiflicher wird das eben noch Gewichtige. Die Sonne prickelt auf meiner Haut, wohlig bis tief in die Knochen hinein, und ein laues Lüftchen umschmeichelt mich. Liebe Leser, so muss sich die Ankunft im Paradies gestalten …
Daheim liegen Notizblöcke voller guter und schlechter Ideen, an die 50 unbeantwortete E-Mails, Briefe, inflationäre Werbebroschüren, Rechnungen, die fällig sind, Einladungen, die ich ablehnen muss, aufgeschlagene Magazine, Zeitungen, Bücher und ein Haufen waschfälliger Kleider. Alle diese Dinge erscheinen mir hier auf dem See plötzlich fremd, überflüssig – einer verirrten, grotesken
Welt zugehörig, der ich heute entkommen bin und mit der ich zunehmend meine Mühe habe. Es ist die busygoing-nowhere-Falle – zu viel machen, reden und studieren – zu wenig freies Leben. Ich weiss, dass es vielen Menschen auf diesem Planeten so geht, nur tröstet mich das wenig.
Wenn ich hier und jetzt in diesen vieltausendjährigen, tiefblauen Himmel blicke, die Wolken gelassen vorbeiziehen sehe, wenn diese Berge, so majestätisch, kühn und unverrückbar klar vor mir stehen – wie kann es da sein, dass daneben all dieser lumpige Alltags-Bagatell-Kram der Trostpflaster-Konsumwelt noch ihre Relevanz hat? Warum lassen wir uns da bloss immer wieder so reinziehen? Die fragwürdige Kunst eines jeden Tages ist doch heute, die Perlen im ganzen Ramsch zu finden, der uns umgibt und angeboten wird. Doch selbst die Lüge dient der Wahrheit und die Schatten löschen die Sonne nicht aus, vor allem nicht im Sommer. Auf geht’s …
Wieder zu Hause, fragt mich meine liebe Tochter, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr ins nahe liegende Kloster zu gehen. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen nach dem See. Eine braungekleidete Kapuzinernonne öffnet uns freundlich die Pforten. Lange dunkle Gänge führen in den Innenhof. Ein paar Schwestern machen im Halbschatten ein Kartenspiel. Wir zwinkern ihnen zu und ich glaube, sie freuen sich, zwei so bunte, streunende Hunde in ihren Mauern zu sehen. Es fühlt sich gut und sehr kühl an. Die Kirchen und Klöster sind ja eigentlich die Erfinder der Aircondition … nur liess es sich nicht patentieren.
Wir lassen uns den umwerfend schönen Garten zeigen. Wie man mir berichtete, durfte man früher hier nur unter strenger Strafe aus den Klosterzellen darauf herunterblicken. Zu gross waren wohl die Verführungskraft und die Ablenkung all der prächtigen, alten Rosen, Hortensien, Lindenbäume und dem berauschenden Jasmin und Lavendel. Das passte nicht zur streng auferlegten Kasteiung der jungen Nonnen – obwohl sich eigentlich Gott, oder wie wir es nennen wollen, in dieser wunderbaren Natur, in all den Blüten, Früchten und Düften so gross und stark offenbart.
Wir ergreifen die Gelegenheit und nehmen auch noch am anschliessenden Vesper, dem liturgischen Abendgebet, teil. Da sitzen fünfzehn ältere Nonnen im Halbkreis in einem holzgetäfelten Raum in engen, unbequemen Chorstühlen und lobpreisen mit wackligem aber herzvollem Gesang Gottvater, Gottsohn und den heiligen Geist – fern von der Aussenwelt und ohne Nachkommenschaft. Far out! Ein wirklich spezieller Moment, den ich mit meiner Tochter erleben durfte.
Spätnachts im Bett sinniere ich über diesen Tag, das Erlebte, über die Vergänglichkeit und ob jetzt ich oder die Nonnen etwas im Leben verpasst haben … Wie lange mag mein Tochterkind wohl noch so schöne Ausflüge mit mir machen? Ist meine neue Songidee dazu himmlisch genug? Ganz leise hallt ein Ferngewitter. Mein Haus liegt zwischen drei Klöstern und auch morgen werde ich wieder von einem ihrer Glöcklein geweckt werden. Die wunderbaren schwarzen Kirschen und Aprikosen warten auf dem Tisch und ich bin frohgemut, dass sich ein weiterer Sommertag ankündet. Ich möchte unbedingt noch die Gefilde goldener und rauschender Ähren besuchen, bevor sie die Sense oder der Mähdrescher bald schon zu sich holt. Und schliesslich bitte ich noch den grossen Manitu, er möge mir Ruhe, Durchlässigkeit und Kraft geben. Ich meine damit die Art von Kraft, die uns wieder mehr eins sein lässt mit dem Schöpfer und die uns in den Schoss der Natur zurückführt. Oh Sommer, tust du mir gut!
QUARTIERPIRATEN
Die Sonne nickte dem Städtchen Solothurn freundlich zu und ich spielte mit meiner Tochter vor dem Haus Strassenfussball. Immer mehr Kinder kamen dazu. Jemand brachte die Idee, die Quartierstrasse abzusperren, um ungestörter zu spielen. Dieser erst zaghafte Wunsch wuchs rasch zu der Massnahme heran, von motorisierten Eindringlingen einen Wegzoll zu verlangen. Ich fand das grossartig und freute mich diebisch darüber, wieder einmal etwas zu tun, das, mit dem strengen Auge des Gesetzeshüters betrachtet, nicht ganz lupenrein war. So unterstützte ich das Vorgehen natürlich von ganzem Herzen.
Strassenarbeiter hatten in der Nähe ein paar orange-weisse Gummihütchen zurückgelassen. Die eigneten sich hervorragend als Tore und Strassenblockade. Ein Junge fuhr seinen Traktor auf und das Nachbarmädchen ein Märitkörbchen auf Rädern. Strassensperren sind sonst etwas Widerliches. Diese hier war aber wunderbar hübsch anzusehen und offenbar anziehend. Sie zog weitere Aktivisten aus ihren vier Wänden heraus. Schliesslich waren etwa zwölf Kids in guter Spiellaune zugegen. Das Spiel verschob sich sachte vom Fussball zum Wegelagerertum. Man spähte mehr nach dem nächsten Auto, als sich fürs nächste Goal reinzuhängen.
Etwa alle sieben Minuten fuhr eines vor. Es folgte die kecke Ansage der Kids: »Das kostet einen Franken, dafür gibt’s freie Fahrt und einen Krokus-Totenkopfaufkleber.« Die Reaktionen der Fahrer fand ich spannend: Je billiger die Karrosse, desto grosszügiger fiel das Passiergeld aus. Aus einem Lada – eh, einem Škoda – wurden drei Franken herausgereicht, ein Toyota generierte vier und eine witzige Rostlaube sogar fünf Stutz. Der Driver des noblen Flügeltüren-Mercedes mit Beifahrerdekoration hingegen konnte dem Spiel nichts Lustiges abgewinnen. Die Sorge um sein Prestigegeschoss war gross und in seiner Welt wird wohl andersherum gespielt. Er war die motzende Ausnahme, die den anderen Autofahrern zu entsprechend mehr Ansehen und Beifall verhalf.
Da erschien meine frühere Lebenspartnerin mit einer Schüssel Tiramisu auf dem Platz und wir setzten uns mit all den Kids an meinen Gartentisch und schlemmten wie die Räuber. Rundum zufriedene Gesichter. Ich fühlte mich in die Zeit zurückkatapultiert, wo das Blabla vom Ernst des Lebens noch nicht in meine Ohren drang. Ich fragte mich, was Kinder durchleben, bevor sie in die konfuse, hektische Erwachsenenwelt eintauchen, von der wir meinen, sie sei reifer. Ausgetreten aus dem Land der Könige und Elfen, wo man doch viel mehr wusste, als die Erwachsenen – die kennen ja nicht einmal mehr Geheimverstecke. Ja, wirklich: »Werdet wie die Kinder.«
Kinder stellen Fragen. Sie begehren auf, wenn sie etwas nicht verstehen und bevor die Sache nicht bereinigt ist, geht nichts mehr. Da werden sie zum bockigen Grautier. Dafür sind sie wiederum Meister im Verzeihen und Frieden machen, wenn der Gegenstand der Differenzen diskutiert und jeder Beteiligte angehört wurde. Ich beobachte da eine erstaunliche Sachlichkeit und Akzeptanz, die in den Politstuben der Erwachsenen oft schmerzlich fehlt.
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